Aus der Geschichte eines Deutschen lernen

"Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Dass man aus der Geschichte lernen müsste", so lautet eine banale Sprüche-Weisheit.
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Das gilt dann vor allem für die eigene Geschichte in Deutschland, so der erhobene Zeigefinger von Geschichtslehrern in beiden deutschen Staaten nach 1945. Nach dem Anschluss der DDR an die BRD und dem Entstehen eines einheitlichen deutschen Staates wurden die Deutschen dann auch im Ausland mit unterschiedlicher Lautstärke aufgefordert, aus ihrer Geschichte zu lernen. Ganz klar ist damit die 12jährige verbrecherische Herrschaft der Nationalsozialisten mit Hitler in Deutschland gemeint, die Abermillionen Opfer kostete und unermessliche Zerstörungen verursachte. Wie konnte das möglich werden? Wie konnte innerhalb von wenigen Jahren eine Demokratie ausgehöhlt werden und die Nazis schleichend an die Macht kommen? Es gibt darauf eine Fülle von Antworten aus allen politischen Lagern damals wie heute. Ein besonderes Gewicht gebührt meiner Meinung all jenen, die damals den Weg zur Machtergreifung des deutschen Faschismus erlebten und sich als Zeitzeugen zu Wort gemeldet haben. Einer von ihnen ist Sebastian Haffner. Er hat das Buch geschrieben "Geschichte eines Deutschen - Erinnerungen 1914 – 1933". Sebastian Haffner, Jahrgang 1907, Sohn einer gut betuchten preußischen Beamtenfamilie, erlebte als Referendar am Berliner Kammergericht sowohl die Machtübernahme wie Machtausübung der Nazis in Berlin. Im Jahr 1938 emigrierte er nach England. Während der Emigration arbeitete Haffner beim "Observer" in London und später dann als Korrespondent und Publizist in Westdeutschland z. B. von 1962 bis 1975 als Kolumnist bei Henry Nannen in der Zeitschrift "Stern". Der politische Beobachter und anerkannte Historiker hat es den Schubladen-Einordnern in linke und rechte Autoren nicht leicht gemacht. Rudolf Augstein urteilte über ihn, Haffner sei "den Realitäten manchmal sehr nahe und manchmal sehr fern." Nach seinem Tod im Jahr 1999 wurde ein Jahr später in seinem Nachlass ein Manuskript gefunden und veröffentlicht, das sehr große Aufmerksamkeit fand. Es trug den Titel "Geschichte eines Deutschen" und schildert eindrucksvoll, wie der Schüler und spätere Referendar den Abbruch des demokratischen Systems der Weimarer Republik erlebte. Es ist sicher nicht allein die journalistische Qualität und historische Autorität, die dieses Haffner-Buch vor 20 Jahren bis heute so bedeutsam macht. Daran änderte auch nichts die Diskussion über das Entstehungsdatum. Das Buch, das von der Zeit 1914 bis 1933 in Deutschland handelt, ist erst 1939 im Exil fertig gestellt und später noch marginal ergänzt, aber eben niemals zu Lebzeiten von Haffner veröffentlicht worden. Es ist so bedeutsam und nachvollziehbar, weil es aufzeigt, wie die schrittweise Zerstörung demokratischer Grundrechte auch schrittweise zu einer der übelsten Diktaturen führte. Das Buch über die ersten Kapitel der Kindheitsgeschichte beginnt mit dem achtjährigen Jungen Sebastian Haffner, der sich empört, dass er im August 1914 seinen Ferienaufenthalt mit seinen Eltern auf einem Gut in Hinterpommern ganz kurzfristig beenden musste. Der 1. Weltkrieg brach aus. Haffner schreibt über die Revolution 1918: "Die Macht lag auf der Straße." (Seiter 34) Und wie die schlecht organisierte Revolution in einer Gegenrevolution von sogenannten Freicorps - als Regierungstruppen verkleidet - blutig niedergeschlagen wurde. Das Aroma von Verrat, das der SPD-Regierung mit Ebert und Noske anhaftete, war zu penetrant und es drang, so der Autor über sich, bis in die Nasen der Zehnjährigen. Und dann werden dem Leser die persönlich geprägten Bilder der Weimarer Republik aufgeblättert. Die Geldentwertung und Inflation, die mangelnde Zivilcourage der Deutschen, die ihn vollkommen verlässt, wenn er eine Uniform anzieht, der Reichskanzler Brüning, der die Republik verteidigte, indem er sie abschaffte und eine Semi-Diktatur im Namen der Demokratie und zur Abwehr der echten Diktatur installierte. (Seite 85) Mit dem Reichstagsbrand im März 1933 begann der staatlich organisierte Terror. Bei einer Wahl am 5. März waren die Nazis noch in der Minderheit, aber Verrat und Schwäche der Gegner in den damaligen Parteien halfen ihnen an die Macht. Noch in diesem März traten dann Hunderttausende der Nazipartei bei, die sogenannten "Märzgefallenen". Einen Hauptgrund sah Haffner neben dem Magnetismus der Masse und Mitläufertum in der Angst. "Mit prügeln, um nicht zu den Geprügelten zu gehören ... Die Juden sind schuld, anstatt: der Kapitalismus ist schuld. "(Seite 131) Sebastian Haffner erlebt als Referendar im Kammergericht Berlin den Antisemitismus der Nazis. In eine Bibliothek hereinstürmende SA-Leute fragten Haffner, ob er arisch sei und er antwortete mit ja. Er hatte nicht gelogen, aber er empfand die Szene als Demütigung. Und der Autor entlarvt im Folgenden die bereits damals nicht mehr verheimlichte Absicht der Nazis, die Deutschen dazu abzurichten, die Juden über die ganze Welt zu verfolgen und möglichst auszurotten. Es soll die Ur-Solidarität jeder Tiergattung untereinander ... innerhalb des Menschengeschlechts außer Kraft gesetzt werden mit dem Ziel ein Volk wie ein Rudel Hunde auf Menschen "scharf zu machen". (Seite 139 ff.) Worum es sich handelt, ist die systematische Impfung eines ganzen Volkes - des deutschen - mit einem Bazillus, der bewirkt, dass die von ihm befallenen Mitmenschen wölfisch handeln ... Abtötung des Werkes eines vieltausendjährigen Zivilisationsprozesses. Und Haffner fragt beklommen, wo sind die Deutschen geblieben, die noch am 5.3.1933 in der Mehrheit gegen Hitler gewählt haben? Vom Erdboden verschwunden oder Nazi geworden? Billigen sie etwa das Vorgehen gegen die Juden, gegen eine Minderheit? (Seite 173) In den nächsten Wochen der Machtübernahme der Nazis ging der Terror in den Zeitungen weiter. "Konzentrationslager waren nun eben eine Institution geworden und man war eingeladen, sich daran zu gewöhnen und seine Zunge zu hüten." "Die 'Gleichschaltung', also die Besetzung aller Behörden, Lokalverwaltungen, großen Geschäfte, Verbands- und Vereinsvorstände mit Nazis ging weiter, aber jetzt systematisch ..." Besondere Aufmerksamkeit richtete der promovierte Jurist Haffner auf seine Wirkungsstätte als Referendar, das Kammergericht. Räte dieses Gerichts hätten "sich einige 150 Jahre früher von Friedrich dem Großen lieber einsperren lassen, als dass sie auf königliche Kabinettsorder hin ein Urteil änderten, das sie für richtig hielten. "Nun im April 1933 brauchte es wenig, um das Kammergericht und seine Rechtsprechung gleichzuschalten. Ein paar junge Amtsgerichtsräte mit forschen Manieren und mangelhaften Rechtskenntnissen genügten dazu."(Seite 178) Die Geschichte der Selbstzerstörung von Deutschland und seiner politischen Kultur reicht weiter zurück. Nunmehr machen sich für den Beobachter Haffner Hakenkreuzfahnen und braune Uniformen überall breit wie eine Besatzungsarmee. Es tauchen rote Plakate mit Hinrichtungs-Bekanntmachungen an den Säulen auf. Befinden sich die meisten Deutschen in einer Gemütsverfassung, die sich für den normalen Betrachter schlechthin als Geisteskrankheit oder mindestens als schwere Hysterie darstellt? (Seite 185) Im Jahr 1938 emigrierte Sebastian Haffner mit seiner jüdischen Verlobten nach London ins Exil. Für den heutigen aufmerksamen Leser liefern diese Erinnerungen doch beklemmende Gefühle. Die Republik verteidigen, in dem die Demokratie der Republik abgeschafft wird, um mit einer Semi-Diktatur im Namen der Demokratie die echte Diktatur abzuwehren? Wird ein Bazillus unter die Menschen gebracht, der die Ur-Solidarität des Menschen und seiner Zivilisation gefährdet, in dem Mehrheiten gegen Minderheiten in Stellung gebracht werden? Sind die Juristen in Kammergerichten wie in der Vergangenheit heute so ausgerichtet, charaktervoll und mutig, das sie sich lieber einsperren als ihre Rechtsprechung gleichschalten lassen? Ganz sicher kenne ich als Autor von diesem Einwurf den Unterschied zwischen dem Gleichsetzen und dem Vergleichen. Niemand sollte die Verbrechen und Opfer der Nazidiktatur und anderer Diktaturen mit kritikwürdigen Zuständen im heutigen Deutschland gleichsetzen. Damit werden die Nazi-Verbrechen verharmlost, heutige Tatbestände hysterisch dramatisiert. Aber vergleichende Wertungen bei der Einschränkung von demokratischen Regeln im Grundgesetz sind nicht nur zulässig, sondern sogar dringend erforderlich. Das betrifft insbesondere die Verteidigung von Grundgesetz und Verfassung. Bekanntlich trat das Grundgesetz am 24. Mai 1949 in der BRD in Kraft und gilt seit 1990 in ganz Deutschland. Im Auftrag der drei westlichen Siegermächte hat ein 65köpfiger Parlamentarischer Rat das Grundgesetz ausgearbeitet. Diese neue Regeln sollten die Menschen in Deutschland schützen. Nie wieder sollte es eine Diktatur in Deutschland geben. Ganz wichtig für den Parlamentarischen Rat war:
Kein einzelner Mensch und keine Gruppe sollen alleine die Macht haben.
Jeder darf seine Meinung sagen.
Alle Menschen haben die gleichen Rechte.
Jeder Mensch ist wertvoll.

Derzeit verteidigt eine wachsende Zahl von kompetenten und seriösen Persönlichkeiten ganz aktuell das Grundgesetz und die Verfassung in die Öffentlichkeit wie der Verfassungsrechtler Dr. habil. Ulrich Vosgerau, der Jurist und frühere Spitzenpolitiker Otto Schily, der Jurist und langjährige Publizist der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl oder der frühere Planungschef im Bundeskanzleramt von Brandt und Schmidt Albrecht Müller mit seinem Team der Nachdenkseiten. Sie alle fordern eine grundlegende und ernsthafte Diskussion speziell über die Corona-Politik mit Impfpflicht und Lockdown in einer demokratisch verfassten Gesellschaft ein. Denn der Spruch ist gerade für die Deutschen mit ihrer Geschichte brandaktuell: Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Dass man aus der Geschichte lernen müsste.

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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