Berlin ist aus dem Kahn gebaut

Es ist viel zu lesen und zu hören über den Abstieg der Metropole Berlin. An dieser zum Teil genussvollen Beschreibung beteiligen sich in jüngster Zeit sogar zunehmend die sich als staatstragend fühlenden Mainstream- oder Massenmedien.
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Meist kulminieren die Probleme bei den zwei Reizthemen für die Berliner: innerstädtischer Straßen- und Schienenverkehr sowie alles rund um fehlenden preisgünstigen Wohnraum. Umso mehr ist dem gestressten Zeitgenossen zu seiner Erholung ein Bildband über den Aufstieg Berlins zur Metropole zu empfehlen. Den liefert der kleine Sutton-Verlag aus Erfurt mit dem Titel "Berlin ist aus dem Kahn gebaut". Der Verlag fand für dieses Buch den Schifffahrtsexperten Joachim Winde, der fast vier Jahrzehnte als Verkehrskaufmann und Wirtschaftsingenieur in der VEB Binnenschifffahrt-Reederei tätig war. Er hat auch die Abwicklung als letzter Hauptbuchhalter miterlebt, aber das ist ein anderes ebenfalls spannendes Thema. Mit seinem Fach-Wissen und seiner Leidenschaft für die Binnenschifffahrt hat er in den vergangenen Jahren schon eine ganze Reihe von Büchern zur 200-jährigen Geschichte der Dampfschifffahrt auf Havel und Spree verfasst. Nun dieser Bildband, in dem der Autor schon in der Einleitung verspricht, dass er den Lesern nicht nur die Kanäle, Schleusen und Binnenschiffe näher bringt. Er erzählt viele spannende Geschichten über Berlin und trägt jede Menge Wissenswertes über die Stadt zusammen. Dazu liefert Winde eindrucksvolle historische Fotos. Der Nukleus der Stadt Alt-Berlin lag zwischen den heutigen S-Bahnhöfen Jannowitzbrücke und Hackescher Markt. Hier entstand 1861 bis 1869 das neue Rathaus, auch rotes Rathaus genannt. Selbst wenn einige zugereiste Berliner immer noch glauben, der Name stammt von den Ostberliner SED-Bürgermeistern wie Erhard Krack und seinen Vorgängern, so werden sie auch im Bildband korrigiert: Ausschließlich wegen der Farbe der Ziegel aus dem Märkischen wurde das imposante Gebäude des Bürgermeisters seit seiner Eröffnung rotes Rathaus genannt.Es finden sich im dem Bildband flankiert von vielen historischen Fotografien wie dem Berliner Schloss und alten S-Bahnhof-Gebäuden viele interessante Details über das enorme Wachstum der ehemaligen Hauptstadt Preußens. Betrug die Fläche 1861 noch 59,2 Quadratkilometer, erreichte Groß-Berlin bis 1920 durch Bevölkerungszustrom und insgesamt 94 (!) Eingemeindungen die beachtliche Zahl von 883,6 Quadratkilometer. Dazu trugen die damals schon berüchtigten Bodenspekulanten bei. Überteuerte Flächen für Wohnungsbau, Industrie und Gewerbe führten zur schnellen Ausdehnung nach Moabit, Spandau, Schöneweide und Köpenick. Berlins Aufstieg zur Metropole vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist untrennbar mit der Binnenschifffahrt und Flößerei verbunden und natürlich mit der verkehrsgünstigen Lage an Havel und Spree. Über die Binnenwasserstraßen erreichten ungeheure Mengen an Baustoffen aus Rathenow, Zehdenick, Brandenburg an der Havel, Glindow und Rüdersdorf die Stadt. Nicht nur die Wasserstraßen und Schleusen, Binnenschiffe und -häfen stehen im Mittelpunkt. Auch den Steinbrüchen, Sandgruben und der Ziegel- und Keramikindustrie widmet sich ein eigenes Kapitel, wozu auch Informationen zum Technikmuseum im Ziegeleipark Mildenberg gehören. Eine Renaissance der Binnenschifffahrt für Güter wird es für Berlin nicht geben, so die klare Ansage des Experten Winde. Eine letzte Chance dazu sei im Jahr 1990 verpasst worden, da vor allem bei der Finanzierung die Renditeerwartungen einer vorrangig mittelständisch geprägten Binnenschifffahrt zu gering ausfielen. Moderne Technik wie die Container-Technologie und geringeres Aufkommen von Schüttgut taten ein Übriges. Geblieben sind teilweise bis zu 100 Jahre alte Schleusen und Kanäle. Sie werden mit verzweifelten Anstrengungen im Bundesverkehrswegeplan für die Touristen und für die Fahrgast-Schifffahrt mit ihren mehr als 30 Reedereien in Berlin am Leben erhalten. Und geblieben sind die Erinnerung an Traditionen auf den Wasserstraßen Berlin, an Land und Leute mit Handwerk, Technik und harter Arbeit, geblieben sind Bilder von den Lastkähnen und alten Personendampfern - aus einer Zeit in der Berlin auf dem Weg zu einer Metropole war.

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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