Eine unverzichtbare Wortmeldung

Über das neue Buch von Oskar Lafontaine "Ami, it‘s time to go". Provokant prangt in roten Buchstaben auf dem Cover des im Westend-Verlag erschienenen Buches die unmissverständliche Aufforderung: Ami, it‘s time to go.

Oskar Lafontaine, Foto von ESDES.Pictures
Oskar Lafontaine, Foto von ESDES.Pictures

Die Unterzeile erklärt das Anliegen des Autors Oskar Lafontaine: "Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas". In der Überschrift für den Hauptteil des Buches formuliert der Autor sein Ziel noch konkreter: "Kein Nuklearkrieg in Europa. Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien." Es bedarf dringend eines politischen Diskurses wie er zu einer demokratischen Ordnung der BRD laut Grundgesetz gehört und den Menschen zusteht. Wo leben wir denn? Ganz offensichtlich in einer Medien- und speziell in einer Talkshow-Diktatur, in der Positionen, die vom Regierungskurs abweichen, keinen Platz mehr haben. Zumindest können die nicht Genehmen, die nicht in Talkshows Eingeladenen derzeit noch ihre Warnungen vor einer für die Bevölkerung desaströsen Politik zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlichen. Den enttäuschten Zeitgenossen, die vergeblich darauf warten, dass kritischen Stimmen wie der von Oskar Lafontaine ein Platz im Fernsehen eingeräumt wird, verbleibt einfach, die gebührenfinanzierten "emotionalen Pißrinnen" (Georg Schramm) zu boykottieren und sich an dem neuen Buch von Lafontaine in Essay-Länge von 60 Seiten zu erfreuen.

Für diejenigen, die den alten Sozialdemokraten und Linken von vornherein ablehnen, ist dieses Buch nicht gemacht. Wohl aber für jene, die von einem in der Tradition von Willy Brandt und Egon Bahr und deren Friedens- und Sicherheitspolitik stehenden Politiker Antworten auf die gegenwärtigen Krisen erwarten. Kann das Buch solche Erwartungen erfüllen? Die Antwort ist ein klares Ja. Schon gleich zu Beginn geht der Autor auf die aktuelle Diskussion in Deutschland ein, in der eine Politikergilde täglich lautstark neue Waffenlieferungen in die Ukraine fordert. Den Vogel hat die deutsche Außenministerin Baerbock abgeschossen, die ihre Forderungen nach Lieferung von Leopard-Panzern damit begründete, dass deutsche Waffen Leben retten würden. "Da fehlen einem die Worte", so nur noch lakonisch Lafontaine. Sein Resümee lautet: "Das Pentagon kann jede Lüge verbreiten - die westlichen Medien werden sie schlucken", um dann knallhart festzustellen: "Raketen ohne Vorwarnzeiten sind so etwas wie das Messer am Hals des jeweiligen Gegners." Und dann lässt Lafontaine das Zitat von Machiavelli folgen: "Nicht wer zuerst zu den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt." (Seite 8/9) Der Autor traut sich dann, folgendes auszusprechen: "Ohne russische Rohstoffe und Energielieferungen werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. … Deshalb ist diese Regierung die dümmste, die wir hatten seit Bestehen der Bundesrepublik." (Seite 10)

Lafontaine bleibt nicht bei solchen drastischen Urteilen stehen, sondern erläutert auch die Gründe dafür, dass eine solche Lage entstanden ist. Die Entspannungspolitik wurde aufgegeben und durch eine Politik der Konfrontation ersetzt. Und er stellt wohl eine der wichtigsten Fragen: Welche Rolle spielt die stärkste militärische Weltmacht USA und was tut sie, um ihre Ziele zu erreichen? Man muss dazu nur Dokumente lesen, wie die 1992 aufgestellte Wolfowitz-Doktrin - eine Handlungsanleitung, wie die Rivalen der USA klein zu halten sind. Um die Vorherrschaft zu sichern, wurden nach den Zweiten Weltkrieg mörderische Kriege geführt, in Korea, Vietnam, Jugoslawien, Irak, Syrien, Libyen. Dafür brauche die USA Vasallen, die ihre aggressive Politik mittragen, allen voran Deutschland. Das Bestreben der USA, die einzige Weltmacht zu sein, bestimmt die Lage. "Wer etwas anderes sagt, belügt die Leute, täuscht sie oder täuscht sich selbst." (Seite 14) Lafontaine erinnert an Christa Wolf und ihren Roman Kassandra, in dem zu lesen ist: "Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gibt, müsste man sie weitersagen. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst Euch nicht von den Eigenen täuschen." Lafontaine meint dazu: "Ja, wir lassen uns von den Eigenen täuschen, von unserem mächtigsten Bündnispartner, der seit Jahren versucht, sein Zündeln an der russischen Grenze als russische Aggression zu verkaufen." (Seite 15) Nicht nur im Krieg, sondern auch im Vorkrieg ist die Wahrheit das erste Opfer. Und das heißt im Umkehrschluss, man wird keinen Frieden finden, wenn man sich nicht die Wahrheit vor Augen führt.

Wer nach der bisherigen Lektüre glaubt, den Buchautor als uneingeschränkten Unterstützer der Putin-Politik einordnen zu können, der irrt gewaltig. Lafontaine stellt klipp und klar fest: "Der Angriff von Russland auf die Ukraine ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht." (Seite 18) Und er bekennt: Ich bin kein Putin-, aber ein Gorbatschow-Versteher. Besonders spannend in den Erinnerungen des Autors der Passus, wo er neben Heinrich Böll, Petra Kelly und Gert Bastian vor dem US-Depot in Mutlangen gegen die Raketen-Stationierung in Deutschland demonstrierte. Und wenn er heute daran denkt, dass die Stiftung der Grünen immer noch nach Heinrich Böll benannt ist, bekommt er Bauchkrämpfe. Geeignetere Namensgeber wären, so Lafontaine, Madeleine Albright oder Carl von Clausewitz, für den der Krieg die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war. "Gedanken zum Krieg" nennt Lafontaine sein abschließendes Kapitel. Die drängende Frage lautet: Wie kommen wir zum Frieden? Er veröffentlicht den Vorschlag des Mitbegründers der Grünen und späteren SPD-Politikers Otto Schily, dass man der Ukraine eine ähnliche Verfassung gibt wie der Schweiz, auch mit regionaler Autonomie, und dass diese Neutralität durch die internationale Gemeinschaft militärisch abgesichert wird. Ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss. Die Leser des Lafontaine-Buches erfahren darüber. Und sie können sich die Frage mit dem Titel des Buches beantworten, warum in der breiten Öffentlichkeit darüber nicht diskutiert wird. Bricht die Zeit dafür erst an, wenn sich Europa von der Vormundschaft der USA befreit? Das wichtigste Resümee in den letzten Zeilen des Buches: "Wir sind uns hoffentlich alle einig, dass jetzt alles getan werden muss, dass die Waffen schweigen…. Der Waffenstillstand, der Frieden, hat höchste Priorität. Jeder sollte versuchen, dazu seinen Beitrag zu leisten." (Seite 57)

Text von Ronald Keusch. Foto von ESDES.Pictures

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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