Moralischer Bankrott eines Berufsstandes

Über Recherche im Journalismus und Kritik an der herrschenden Meinung.
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Besonders in jüngster Zeit ist der Journalismus immer mehr in die Kritik geraten. Dieser Trend drückt sich auch im schwindenden Zuspruch aus. Die verkauften Auflagen der Tageszeitungen in Deutschland haben sich in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert - siehe Statista-Dokumentation hier. Die Einschaltquoten von ARD und ZDF, finanziert durch Zwangsgebühren sinken und sinken, hangeln sich von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Auf der Suche nach Gründen gibt es mittelweile vielerlei Antworten, angefangen von der wachsenden Anzahl der Sender bis zum veränderten Rezeptionsverhalten. Eine maßgebliche Antwort darauf und eine fundamentale Kritik am derzeitigen Journalismus liefert ein Urgestein der Branche, Patrik Baab. Der Journalist Baab hat lange Jahre an ARD-Filmen u. a. zum Barschel-Fall mitgewirkt, ist Buchautor und derzeit Lehrbeauftragter an der Uni Kiel und der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin. Sein neues Buch aus dem Westend Verlag trägt den zunächst harmlos daherkommenden Titel "Recherchieren". Der Untertitel "Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung" wird schon deutlicher, womit der Lehrer seine Schüler ausrüsten will. Aber das Buch ist nicht allein eine Recherche-Fibel für angehende und besonders für aktive Journalisten, sondern viel mehr. Es ist eine Abrechnung mit dem derzeitig herrschenden Medienbetrieb und ein Plädoyer für die oft beschriebene wirkliche "vierte Gewalt" in der Gesellschaft. Seine Texte klingen teilweise wie Hammerschläge. Werden sie gehört in den Parteien, Verbänden, auch und gerade im Journalistenverband? Werden sie gehört vor allem bei den Lesern, Zuhörern und Zuschauern, die seriös und wahrhaftig informiert werden wollen? Schon in den ersten Sätzen steht der Leitspruch des Buches, der sich der Aufklärung verpflichtet. "Zu ihrem Kernbestand zählt die Einhegung politischer Macht. Kritik und Kontrolle derselben ist eine journalistische Kernaufgabe." Doch in der Praxis werde die Presse häufig zum Apologeten der Mächtigen und statt aufzuklären, vernebele sie die Interessen von Machteliten. Damit wird die Presse "zum Unterstützer der Gegenaufklärung" (Seite 9). Autor Baab belässt es schon im Prolog nicht dabei, die Aufklärung u. a. auf die Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant zurückzuführen, sondern findet gleich den Bezug zur unmittelbaren Gegenwart. Nie waren Kritik und Kontrolle der Eliten so aktuell und wichtig wie in der Coronakrise. Denn der Kampf gegen die Viren ist "die perfekte Ausrede für den Griff zur Macht" (Seite 12). Auch hier gilt es wie bei anderen Themen, hinter wohlklingenden Ideen die materiellen Interessen zu erkennen: "Follow the money", also folge der Spur des Geldes. Und bevor der Autor dann den versprochenen Werkzeugkasten der Recherche auf mehr als 170 Buchseiten auspackt, präzisiert der heutige Hochschullehrer noch einmal seine Zielgruppe. Seine Publikation wendet sich nicht nur an Berufskollegen, an Blogger und Internet-Aktivisten. Sie will auch all jene Menschen erreichen, die politischen Lügen nicht mehr auf den Leim gehen wollen. Und so scheint es, ihre Anzahl wächst. Der journalistische Werkzeugkasten zum Recherchieren hat insgesamt 14 Kapitel. Die Überschriften kommen zunächst recht didaktisch und nüchtern daher. Es beginnt mit "Themen finden" und dann weiter "Quellen erschließen" und "Quellen prüfen", "Quellen schützen". Aber die Leser müssen in keinem der Kapitel befürchten, dass hier belehrend und erzieherisch - wie neuerdings zunehmend in der ARD bei den "Tatort"-Sendungen - ein Studienstoff behandelt wird. Von Anfang an geht es zur Sache und es ist Spannung angesagt. Beim "Themen finden" begleitet der Autor einen Spaziergänger am Landwehrkanal in Berlin. Hoho, werden jetzt einige mit Zensurbrille ihren Blick schärfen, etwa ein Querdenker? Es ist tatsächlich ein Querdenker durch und durch. Der Spaziergänger ist der berühmte Journalist Egon-Erwin Kisch, aus dessen Reportage-Reihe "Nichts ist erregender als die Wahrheit" sehr ausführlich von Baab zitiert wird. Der rasende Reporter, wie Kisch auch ehrfurchtsvoll bezeichnet wird, schreibt die Reportage über den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch Freikorps-Soldaten. Mit Duldung der SPD-Führung musste Kisch diese Reportage auf Drängen des Verlegers aus dem Band herauslassen. Damals im Jahr 1924 wurde die Veröffentlichung verhindert. Die Reportage erschien dann erst vier Jahre später in der Weltbühne (Seite 25). Dermaßen in Schwung gebracht, werden noch im gleichen Kapitel die sogenannten W-Fragen abgehandelt, mit deren Hilfe wichtige Gesichtspunkte von Geschehnissen aufgeklärt werden können. Diese Fragen, so ist in allen Journalismus-Lehrbüchern zu lesen, beginnen alle mit dem Buchstaben W. Also: Wer? Wo? Was? Wann? Wie? Warum? Und schließlich: Woher kommt die Information? Vor allem die Frage nach dem Warum führt zum Hintergrund des Geschehens. Selbstverständlich sind diese W-Fragen und die Suche nach Antworten nicht allein für die Recherche, sondern zumeist auch für die Öffentlichkeit sehr sinnvoll, um Ereignisse zu bewerten. Auch das Kapitel "Quellen erschließen" beginnt mit einem unglaublichen Spannungsbogen. Der Autor liefert auf mehr als zwei Seiten die teilweise Verschriftung von "Collateral Murder" aus dem Irak-Krieg der USA (Seite 37ff.) Dabei handelt sich um das Bordvideo eines Kampfhubschraubers. Es zeigt, wie am 12 Juli 2007 mit 30-mm Bordkanonen eine Gruppe von neun bis elf Männern unter Feuer genommen werden. Im April 2010 veröffentlichte Wikileaks die von der Bordkamera eines Hubschraubers gemachten Aufnahmen, die vom US-Militär als geheim eingestuft wurden. Damals begann auch der Leidensweg des Wiki-Leaks-Gründers Julian Assange und der Leser erfährt eine ausführliche Geschichte dieser spektakulären und in seinen Auswirkungen bis heute andauernde Recherche. "Wer an die Quelle kommen will, muss gegen den Strom schwimmen", wird der polnische Feingeist Stanislaw Lec zitiert. Der hatte zwar in erster Linie Parteifunktionäre seines Landes im Blick, doch gilt dieser Satz noch heute als erste Recherche-Regel. "Dagegen ist für viele Journalisten der direkteste Kontakt zur Wirklichkeit der Weg zur Kantine. Für Recherchen an der Quelle bleibt oft keine Zeit, und bequemer ist es, sich an Gerüchten zu orientieren" (Seite 42). Bei der weiteren Präsentation des Werkzeugkastens macht der Autor um Tabuthemen keinen eleganten Bogen und zeigt dabei den Mut, den er von Journalisten bei Recherchen einfordert. Und der Leser ist überrascht, wie viele solcher Themen hier aufgelistet werden. Hier nur eine kleine Auswahl. Da ist das Versagen des Wirtschafts-Journalismus als Frühwarnsystem bei der Finanzkrise 2007 (Seite 49ff.) Beim Thema Quellenschutz wird die Geschichte von Whistleblower Edward Snowden erzählt, der öffentlich machte, "wie weit die Überwachungsmaßnahmen der US-Geheimdienste CIA, NSA und DIA gehen" (Seite 72). Zum Thema "Fakten prüfen" widmet sich Baab ausführlich dem prominenten Fall des Starreporters im "Nachrichtenmagazin" Spiegel Claas Relotius (vierzig Preise, darunter Deutscher Reporterpreis und 2018 bester Journalist), der es schaffte, frei erfundene Reportagen zu veröffentlichen. Es ist kein Einzelfall, sondern auch ein Strukturproblem, das weit über den Spiegel hinausgeht. Baab bezeichnet es als "Symbol für den Glaubwürdigkeitsverlaust des Journalismus, der Teil einer fatalen Abwärtsspirale der Branche ist" (Seite 161). Zum Thema Fakten prüfen gehört für den Journalismus-Lehrer zudem die Frage der Rechtssicherheit und damit meint der Autor nicht nur, ob Gegendarstellungs- oder Prozessrisiken drohen. Sein Beispiel dazu ist die interessengeleitete Propaganda von der "Annexion" der Krim. Sein Fazit: "Die von Washington und Brüssel verordnete Sprachregelung hält einer juristischen Prüfung nicht stand…" (Seite 165) Demgegenüber hat offiziell der Fakten-Check Konjunktur. Und Autor Baab belegt am Beispiel "Correktiv" im deutschsprachigen Raum, welche internationalen und US-Finanzquellen sprudeln. Trotzdem werden sie meist als neutrale und seriöse Quellen behandelt, obwohl sie es in Wahrheit nicht sind (Seite 167ff.). Alles sehr lesenswert, sogar unterhaltend und spannend, aber auch beklemmend und Besorgnis erregend. Für den Autor ist das Handwerk der Recherche auch ein oppositionelles Konzept. In dem abschließenden Kapitel "Recherchieren in Zeiten der Gegenaufklärung" erläutert der Autor auf 40 Seiten (!) seine Vorstellungen, wie die Einhegung der Macht praktisch umzusetzen und der Einfluss der Machteliten auf die öffentliche Debatte zurückzudrängen ist. Und Baab verläuft sich nicht in Theorie-Gebäuden und hat auch immer eine scharfe aktuelle Analyse parat. "Vielmehr zeigt die Berichterstattung während der Corona-Pandemie, dass sich in der aktuellen Demokratiekrise der moralische Bankrott eines ganzen Berufsstandes wiederholt. Das journalistische Selbstverständnis als eines engagiert-herrschaftskritischen Akteurs entpuppt sich in der Praxis als eine Ideologie, die geeignet ist, die affirmative Rolle der Medien-Intellektuellen zu verschleiern" (Seite 220). Nachsatz zum Autor Patrik Baab und zum Journalismus in Deutschland: Interview mit Patrik Baab auf den Nachdenkseiten: "Journalisten sind Lohnschreiber, und leider manchmal Hofnarren unter Wegfall der Höfe". Brief von Wolf Reiser "Dramatische Verrottung - Ein offener Abschiedsbrief an den Vorstand des Deutschen Journalistenverbands und dessen Gefolge" an den Chef des DJV Frank Überall.

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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