Tamtam und Tabu

Deutschland feiert 30 Jahre Deutsche Einheit. Nicht nur mit einem Festakt am 3. Oktober, sondern gleich, Corona hin - Corona her, an insgesamt 30 Tagen in Potsdam.
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Auf einer Website gleichen Namens sieht man all überall strahlende Gesichter, von Politikern und "unseren" Menschen. Für das Tamtam ist ausreichend gesorgt. Pünktlich zum Jahrestag des Beitritts der DDR zur BRD, der in der Nacht zum 23. August 1990 von der Volkskammer im Palast der Republik beschlossen wurde, erscheint ein Buch mit dem Titel "Tamtam und Tabu - die Einheit: drei Jahrzehnte ohne Bewährung" im Verlag Westend. Autoren sind die zeitweilige Journalistin im DDR-Fernsehen und heute Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn sowie der Professor der Uni Kiel Rainer Mausfeld, der bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung inne hatte. Es ist mittlerweile in Deutschland schlechte Sitte geworden, abweichende und kritische Stimmen an der offiziellen Regierungspolitik durch deren angeschlossene Funkhäuser und Printmedien mit abwertenden Etiketts zu bepflastern, um jedwede kontroverse Diskussion und den Meinungsstreit abwürgen zu können. So hört und liest der Zeitgenosse immer häufiger von "Klima-Leugnern" und von "Corona-Leugnern". Für das Autoren-Duo könnte dann vielleicht der Begriff der "Einheits-Leugner" erfunden werden. Aber genauso wie von Klima-Leugnern nicht das Klima und von Corona-Leugnern nicht des Corona-Virus geleugnet wird, so ist es auch mit diesem Buch. Das sich verändernde Klima, dem man sich wohl überlegt und klug stellen muss, es ist da. Das Corona-Virus ist so wie andere Influenza-Viren da und mutiert unaufhörlich. Und es gibt seit 30 Jahren wieder zur Freude der allermeisten Deutschen ein einheitliches Land, ohne innerdeutsche Grenzen als Hinterlassenschaft des 2. Weltkrieges. Das Autoren-Duo Dahn/Mausfeld belegt nun mit vielen Fakten und dem Aufdecken von bisher wenig bekannten Zusammenhängen, dass die breite Öffentlichkeit bei weitem noch nicht über die Ereignisse des Jahres 1990 gut informiert ist. Und sie erlauben sich eine von der offiziellen Regierungsmeinung abweichende Position. Der Hauptteil des Buches stammt aus der Feder von Daniela Dahn und behandelt ein Tabu. Im November 1989 sprachen sich 86 Prozent der DDR-Bürger für den Weg eines besseren reformierten Sozialismus aus und nur fünf Prozent für einen kapitalistischen Weg (Leipziger Institut für Jugend und Marktforschung), im Dezember 1989 bestätigten Spiegel-Umfragen immer noch, dass knapp 3/4 der DDR-Bürger diese Meinung hatten (Seite 14 ff.). Und Dahn fragt dann nach: Welche Winde haben in atemberaubend kurzer Zeit die Stimmung kippen lassen? Welche Tatsachen, welche Behauptungen, welche Propaganda, welche Winkelzüge haben die Wähler derart aufgeklärt oder manipuliert? Die Autorin versichert glaubhaft, dass es nicht darum gehe, die Deutsche Einheit in Frage zu stellen. Aber sie stellt die vom Zeitgeist so unbeliebte Frage: Gab es nicht einen bedachteren Weg zu einer Einheit, der nicht im Osten derart katastrophale wirtschaftliche und mentale Schäden angerichtet hätte? Allein die Auflistung einiger Kapitelüberschriften lässt ahnen, dass hier keine Märchenstunde von den blühenden Landschaften veranstaltet wird. Volkslektüre - eine Presseschau, Bösewicht, Oberbösewicht, Unterbösewicht, schuld sind wir alle, die Aufkäufer sind da, windows of opportunity, nun muss sich alles wenden, Rausch statt Sachlichkeit, die ganz große Pauke, friss oder stirb, sich auf dem Markt anbieten. Mit vielen Zeitdokumenten und Belegen wird die Situation einige Wochen vor der Volkskammerwahl im März 1990 nachgezeichnet und im Anhang mit Faksimile aus heutiger Sicht fast unglaublichen Zeitungsausschnitten illustriert. So kritisierte Nobelpreisträger Günter Grass die Wahlkampfauftritte westlicher Demagogen, die Versprechen machen "bis zum Sportpalaststil" (Seite 82) und das Urgestein und Gewissen der SPD, Egon Bahr, bezeichnete den Wahlkampf von Bundeskanzler Kohl "als reinsten Psycho-Terror nach Goebbels-Manier" (Seite 86). Auch mit weniger drastischen Wertungen wird dem Leser eine schier nicht enden wollende Auflistung von Wahl-Manipulationen geliefert, über die er sich ein eigenes Bild machen kann. Während nach heutiger gängiger Geschichtsschreibung die Volkskammerwahl März 1990 die einzige gewesen sei, die demokratischen Grundsätzen entsprach, waren es, so lautet ein Resümee von Dahn, in Wahrheit Westwahlen auf dem Territorium der besetzten DDR und das Wort "demokratisch" nicht zutreffend. Nun könnte mancher meinen, warum über verschüttete Milch weinen, die Ereignisse liegen drei Jahrzehnte zurück. Die konservative Allianz erhielt 48,2 Prozent der Wählerstimmen. Es entstand eine große Koalition unter dem Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Die Wähler "wollten das Kapital und wählten die Kapitulation." Aber bei Meinungsumfragen vom April 1990, diese und andere Befragungen der Bevölkerung werden übrigens von den Autoren in verschiedenen Zeitetappen immer wieder mal herangezogen, lehnten immer noch 83 Prozent der Ostdeutschen einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab (Seite 87). Es ist also eine der unzähligen Legenden, dass es der großen Mehrheit darum ging, so schnell wie möglich im Status quo des Westens anzukommen. Viele wollten auch Eigenes in die Einheit einbringen. Gar nicht zu reden beispielsweise vom Spätherbst 1989, wo in Verhandlungen mit Moskau im deutschen Fahrplan ein Punkt auftauchte, von dem "Kohl und seine ganze Bagage" später partout nichts mehr wissen wollte: "Wahlen zu einer deutschen Nationalversammlung", die eine deutschen Verfassung verabschiedet mit anschließenden gesamtdeutsche Wahlen. Das schloss das hochheilige Versprechen ein, die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Welch ein Verrat an der europäischen Friedensordnung! Was im Jahr 1990 folgte ist bekannt. Kohls Währungsunion wird von Finanzfachleuten als die "organisierte Verantwortungslosigkeit" oder auch "ökonomische Atombombe" bezeichnet. Dahn zitiert den "Spiegel": Der weitaus größere Teil Ostdeutschlands ist zu einem ökonomischen Notstandsgebiet geworden, der in allen Belangen hinter Westdeutschland zurückbleibt (Seite 96). Eine ernüchternde Bilanz, die allerdings im Buch das dilettantische und fehlerhafte Agieren der Bürgerbewegungen und Linken in diesem Einigungsprozess für mein Empfinden zu sehr ausspart. Mag das Buch zu Tamtam und Tabus bis hierher schon manche Gemüter der offiziösen Beurteilung der Deutschen Einheit stark erhitzen, haben die Autoren im zweiten Teil noch eine Steigerung auf Lager. Dafür sorgt besonders Professor Mausfeld mit Kritik am real existierenden Kapitalismus vom Feinsten. Kleines Beispiel gefällig: "Der Kapitalismus ist darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen. Daher kann er sich auch niemals eine demokratische Legitimation aus sich selbst heraus schaffen, das ist eine Binsenwahrheit ..." (Seite 106). An einer Stelle geht er auf die von George Orwell in seinem Roman 1984 beschriebene Gesellschaft ein, in der zentrale politische Begriffe entleert und zur Stabilisierung der Macht mit neuen Sinn belegt werden: "Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke. Wer die Sprache beherrscht, beherrscht die Gehirne und uns" (Seite 107). Mausfeld spricht von Demokratie-Inszenierungen und fehlender demokratischer Kontrolle und man könne die "Demokratie nur noch als Hohn erleben, die zur Spaltung der Gesellschaft führt" (Seite 114). Es drängen sich auch Parallelen bis zur jüngsten deutschen Geschichte auf. Nach diesen beeindruckenden 135 Seiten schließen sich insgesamt fünf Gesprächs-Kapitel der beiden Autoren ohne einen Moderator an. Kann das gut gehen, findet jetzt eine Selbstbeweihräucherung statt? Nichts von alledem. Eine geglückte Erläuterung der dargestellten Positionen, wo beide über Tabus und das vorherrschende Narrativ, über Diffamierungen und das Beschweigen von Problemen diskutieren. Wie kann man Manipulationstechniken entgehen? Wie das unsichtbar machen von Macht sichtbar machen? "Das Verbrennen der wahren Verantwortung kennzeichnet den gesamten Prozess der Einheit. Da braucht man nicht erst an die Treuhand - ein weiteres Wort aus dem Falschwörterbuch der politischen Indoktrination - zu erinnern." (Seite 173) Schließlich findet das Autoren-Duo auch den Mut, die ganz aktuelle Frage zu stellen: Hat das Virus die Demokratie befallen und findet dazu klare Antworten. Diese Positionen sollte vor allem die versammelte Linke, Grüne und SPD und große Teile der sich selbst als links verortenden Künstlerschaft beschämen. Das Fazit Dahn/Mausfeld: "Aus Sicht der Mächtigen lässt sich diese Krise als ein einzigartiges globales Feldexperiment betrachten, das sagenhafte Chancen bietet, repressive Methoden weiterzuentwickeln und zu erproben, durch die sich endlich die Risiken einer demokratischen Bedrohung beseitigen lassen" (Seite 195). Und "wie bereit sind, wieder mal, alle großen Medien, der Regierung kritiklos zu folgen und sich zu deren Sprachrohr zu machen" (Seite 196). Und die Kurzfassung von Prof. Mausfeld "statt Notstandgesetze jetzt Infektionsschutzgesetze" und "mit Virusbomben einschüchtern" und "Es fehlt die öffentliche Debatte". Zu guter Letzt ganz aktuell sparen Dahn und Mausfeld auch die Frage nicht aus, warum der Berliner Senat vor dem Reichstag eine Kundgebung (in der Bannmeile) von Anmeldern aus der rechten Szene erlaubt, um dann mit symbolhaften Bildern die friedliche Demonstration der Querdenker vom 29. August 2020 zu diskreditieren (Seite 206). Im aktuellen Buch plaudert Daniela Dahn auch über teilweise heftige Angriffe auf ihre anderen zahlreichen Bücher. Sie hat alle Klagen wegen Verleumdung und Unterlassung mit Hilfe einer Hamburger Kanzlei gewonnen. Vielleicht einer der Gründe, so mutmaßt die mit dem Tucholsky-Preis für literarische Publizistik ausgezeichnete Dahn, weshalb meine Kritiker von mir abgelassen haben und zur Methode des Ignorierens übergegangen sind. Das kannte sie aus der DDR und die Leser finden einen ja doch, sind souveräner geworden, meint sie. Und stellt abschließend fest: "Manipulation hat auch ihre Grenzen. Ist das nicht auch erfreulich?" Die Deutsche Einheit wird gefeiert. Die Menschen in Feierlaune sollten allerdings nicht nur die bunten Wimpelchen und Girlanden im Potsdamer Stadtgraben bewundern und Festreden hören, sondern auch dieses einzigartige Buch in die Hand nehmen.

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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