Wie kritisch darf das politische Kabarett sein?

Ist dem Kabarett heutzutage erlaubt, die Guten zu kritisieren? Oder schadet dieser Sketch, diese Pointe der richtigen Politik von Staat und Regierung oder noch schlimmer, ist es sogar Wasser auf die Mühlen von …?
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Es hat sich lange Zeit in der deutschsprachigen Kabarettszene das Gerücht gehalten, die legendäre Münchner Lach- und Schießgesellschaft - ihres Zeichens wohl das beste politische Kabarett aller Zeiten mit Übertragung im Fernsehen - dieses Kabarett habe sich 1972 aufgelöst, als Willy Brandt und die SPD (mit der FDP) am Staatsruder saßen. Die "Lach und Schieß" wolle die alte CDU, aber nicht die neue SPD-(Ost) Politik kritisieren. Doch Dieter Hildebrandt und andere haben diese mehrjährige Zurückhaltung bald aufgegeben, unter anderem auch deshalb, weil die SPD ihre eigenen Prinzipien als Regierungspartei in immer rasanterem Tempo über Bord warf. Und wie ist das heute? Das politische Kabarett "Die Distel" hat sich in Kabarett-Theater umbenannt und das gegenwärtige Programm nennt sich Kabarett-Komödie. Da kommt schon der Verdacht auf, dass scharfe Satire hinter Klamauk und Film-Slapstick versteckt oder gar entschärft werden soll. Der Titel des neuen Programms lautet etwas sperrig: "Weltretten für Anfänger; Einmal Zukunft und zurück". Seit die Zukunft begonnen hat, wird die Gegenwart täglich schlechter, so lautet ein Bonmot von Kabarett-Altmeister Hildebrandt. In diesem Sinne hat sich der bekannte Textautor Thomas Lienenlüke eine Geschichte mit der fernen Zukunft des Jahres 2070 ausgedacht. Darin bastelt ausgerechnet Physikerin Merkel eine Zeitmaschine, mit der sie ihre Menschen, die hier leben (früher Volk genannt) in eine sorgenfreie Zukunft katapultieren kann. Auf diese Weise will sie so selbst doch noch Unsterblichkeit erlangen. Die drei Kabarettisten Timo Doleys, Caroline Lux und Michael Nitzel spielen drei Ostberliner, die als Versuchskaninchen in die paradiesische Zeit fliegen, in der alles vollautomatisiert, satellitengesteuert und durchgehend komfortabel zugeht. Soweit die skurrile Kabarett-Theater Geschichte. Auch und gerade mit solcher schillernden Rahmenhandlung erwartet der Kabarett-Besucher nun eine fetzige Auseinandersetzung mit der Merkel-Politik. Die Distel könnte jetzt liefern und mit ihren Stacheln z. B. die unzähligen Phrasen der Bundeskanzlerin und ihrer Regierung aufspießen. Wer hat die Worthülsen nicht zur Genüge gehört: "Wir schaffen das", "Heimat gibt es auch im Plural", "Jeder verdient Respekt", "Wir müssen zur Sacharbeit zurückkehren" und die Top-Phrase "Das ist alternativlos" (siehe auch das neue aufklärerische Buch von Alexander Kissler "Widerworte - Warum mit Phrasen Schluss sein muss"). Doch leider bleibt die Kritik nur an der Oberfläche und arbeitet sich meist an Unwesentlichem ab. Die Eingangs-Szenen des Programms spielen bei einem Psychiater (Sigmund Freud mit der unerlässlichen Zigarre grüßt aus einem Bilderrahmen von der Kabarett-Bühne). Doch die Erkenntnis, dass die Zeit von Frau Merkel abgelaufen ist und sie immer und immer wieder gern den Titel Bundeskanzlerin hören will, ist heute gähnend langweilig. Etwas spannender ging es da schon zu, als auch Frau Nahles und schließlich Merkel-Nachfolgerin AKK beim Psychiater und auf der Couch auftauchten. Leider setzte sich auch in den folgenden Szenen die vornehme Zurückhaltung an tiefer auslotender Kritik weiter fort. Das hunderte millionenfache Unwesen der Berater im Kanzleramt und in Ministerien wird nur en passant gestreift und die ökonomisch-technischen Ruinen des Merkel-Systems wie BER (wird 2070 immer noch gebaut und steht dann unter Denkmalschutz) kurz erwähnt oder ganz verschwiegen wie Stuttgart 21. Auch im 2. Teil des Programms, der im Jahr 2070 spielt, bleiben die Bezüge zur Gegenwart an der Oberfläche, nicht wirklich packend. Thomas Lienenlüke erklärte im Pausengespräch sein Anliegen, vor globalen Zukunftsvisionen a la Orwell "1984" oder Huxleys "Schöne neue Welt" zu warnen. Aber das ist dem Textautor nur in Ansätzen gelungen. Denn wie heißt es bei Neil Postman in seinem Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" so klug: "Orwell fürchtete, das wir von dem ruiniert werden vor dem wir uns fürchten. Huxley fürchtete, dass wir von dem ruiniert werden was wir uns wünschen." Wer denkt da nicht z. B. an den Moralismus der Grünen, die dabei sind, die Fundamente des Wohlstands der Gesellschaft auszuhöhlen und die Medienfreiheit immer mehr beschränken wollen. Auch die Abschluss-Szene des Programms, bei der in der Wohnstube ein Adolf im Bademantel mit Hakenkreuz am Ärmel auftaucht, macht einen noch unfertigen Eindruck. Der freundliche Beifall des Premieren-Publikums signalisierte, dass dieses neue Programm, versehen mit kleinen Frechheiten, bizarren Einfällen und nicht zuletzt dem rasanten Rollenspiel der Kabarettisten durchaus unterhaltend ist. Wie angekündigt eine Kabarett-Komödie - nicht weniger aber eben auch nicht mehr. Mit etwas Melancholie erinnert man sich da an den Kabarettisten Georg Schramm, der mit Wut im Bauch solche Sätze prägte: "Interessenverbände machen die Politik. Die ziehen die Fäden, an denen politische Hampelmänner hängen, die uns auf der Bühne der Berliner Puppenkiste Demokratie vorspielen dürfen. Diese Politfiguren dürfen dann in den öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten bei den Klofrauen Christiansen und Illner ihre Sprechblasen entleeren. Und wenn bei der intellektuellen Notdurft noch was nachtröpfelt, dann können sie sich bei Beckmann und Kerner an der emotionalen Pissrinne unter das Volk mischen." So kritisch darf und muss politisches Kabarett sein, auch das Kabarett-Theater "Distel". Mehr Wut im Bauch und satirisch ansprechen, was ist und nicht was sein soll. Thomas Lienenlüke, übernehmen Sie!

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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