Zu wenig hinterfragt - zu viel geglaubt?

Die erweiterte Neuauflage des Buches von Albrecht Müller gibt Denkanstöße, wie man Manipulationen durchschaut.

Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Wenn Bücher eine Nachauflage bekommen, dann sind sie gut verkauft worden. Das trifft auch zu für das Buch "Glaube wenig, Hinterfrage alles, Denke selbst" mit dem Nachsatz "Wie man Manipulationen durchschaut", das in der ersten Auflage im Oktober 2019 im Westend Verlag erschien. Autor ist Albrecht Müller, der Grandseigneur der deutschen Politik, der unter den Kanzlern Brandt und Schmidt im Kanzleramt tätig war und acht Jahre für die SPD (1987 - 1994) im Bundestag saß. Sein Buch schaffte es sogar trotz oder wegen eines massiven Angriffs im "Streiflicht" der Süddeutschen Zeitung und dem Totschweigen in vielen Medien immerhin auf den 6. Platz der Spiegel-Bestsellerliste. Doch Autor Albrecht Müller nennt im Vorwort noch einen weiteren Grund für eine weitere Auflage dieses Standardwerkes. Das Buch "…gewinnt fast täglich an Aktualität. Die Manipulationen nehmen leider nicht ab, sie nehmen zu." Und der politische Haudegen liefert gleich noch dazu einen Appell und zugleich eine Mahnung. "Sich dagegen zu wehren, bleibt wichtig. Dabei hilft es, vor allem die beschriebenen Methoden der Manipulation präsent zu haben. Dann hat man die Chance zu erkennen, was gespielt wird." (Seite 9)

Angesichts der Aktualität des Themas hat sich Autor Müller entschlossen, die Neuauflage nicht nur wie üblich zu überarbeiten, sondern seine Texte auch wesentlich zu erweitern. Ein hilfreicher Hinweis für alle, die sein Buch bereits gelesen haben. So wird die Liste der von ihm beschriebenen Manipulationsmethoden um zwei weitere Methoden ergänzt und aktuelle Belege angefügt. Besonders in dem knapp einhundert Seiten umfassenden Hauptkapitel, das sich mit konkreten Fällen der Meinungsmache beschäftigt, wurden auch jüngste Beispiele aus den letzten drei Jahren genutzt - "einschließlich der Meinungsmache im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine."

In der Einleitung des Buches wird noch einmal der Grundsatz und Leitfaden des Buches anhand einer sehr bekannten Liedzeile postuliert "Die Gedanken sind frei" und weiter "Wer kann sie erraten … Kein Mensch kann sie wissen". Der Einspruch kommt vom Autor: Einrichtungen und Dienste forschen und testen, was wir denken und versuchen, darauf Einfluss zu nehmen. Und es kommt dazu, dass die Gedanken eben nicht frei, sondern manipulierbar sind. Damit die Gedanken frei sind und bleiben, muss man etwas tun, um Herr der eigenen Gedanken zu bleiben. Deshalb dieses Buch - so Albrecht Müller. Wem das zu allgemein und vielleicht zu hochtrabend ist, kann sich in den folgenden Kapiteln mit dem Autor in die Niederungen der Wirklichkeit begeben. Unter dem Motto: Gedankenfreiheit bewahren, Meinungsmache durchschauen und Methoden der Manipulation studieren. Und noch ein interessanter Hinweis. "Man sollte sich die Personen, vor allem in den Medien, merken, von denen wir mit markanten Täuschungen versorgt werden." (Seite 14) In diesem Zusammenhang geht das Buch in einem extra Kapitel auf das Umfeld ein, in dem man versuchen muss, die Freiheit der Gedanken zu erkämpfen und zu erhalten. Dazu zählt die immer weiter fortschreitende Programmvermehrung und Kommerzialisierung von Hörfunk und Fernsehen. "Hier sollte man wissen, dass einige wichtige, ehedem fortschrittliche Medien ihre Ordinate, ihren Standort im Schema zwischen links und rechts, verschoben haben." Und Albrecht Müller warnt: "Wer das nicht beachtet, wird tendenziell mitverschoben." (Seite 17) Als Beispiele zählt er auf den Spiegel, die Frankfurter Rundschau, die taz, die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit.

Zum veränderten Umfeld zählen selbstverständlich auch die Medienmacher und Journalisten im Einflussbereich der USA und der NATO. Als ein Beleg muss hier die oft zitierte ZDF-Sendung "Die Anstalt" vom 29. April 2014 herhalten. Darin wurde in späteren Jahren nicht mehr praktizierter Offenheit das Beziehungsgeflecht zwischen Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung, Zeitredakteur Josef Joffe, Bildzeitungsmann Kai Diekmann und anderer Journalisten entlarvt. Und der Autor konstatiert, dass wir umzingelt sind von Kampagnen und feststellen müssen, dass die totale Manipulation möglich ist. (Seite 20 ff)

Ein Hauptteil des Buches ist wie bereits in der ersten Auflage den Methoden der Manipulation gewidmet, insgesamt werden 19 beschrieben. Und sage keiner, dass ihn eine solche Zahl an Manipulationsmethoden, die in unserer freiheitlich-demokratischen Medienlandschaft auftauchen, nicht überrascht. Wobei sicher viele bestätigen, dass einige Manipulationen besonders häufig und wirksam eingesetzt werden. Beispielsweise "mit der Methode, Geschichten verkürzt zu erzählen, um Menschen in die Irre zu führen." Wenn über das Verhältnis des Westens und Russland berichtet wird, dann werden Vereinbarungen zur Gemeinsamen Sicherheit und zur Abrüstung aus dem Jahr 1990 häufig weggelassen. Auch vom Bruch des gegenseitigen Versprechens wird nichts erzählt. Die Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze ist "ein übler Vertrauensbruch". (Seite 30)

Als grandios wird das Verschweigen als Methode der Manipulation bezeichnet. Und es werden sehr plausible Beispiele aufgezählt wie das Wirken der Treuhand und die Folgen, der Verkauf ostdeutscher Banken "für ein Appel und ein Ei gepaart mit einer besonders schweren Belastung für ostdeutsche Betriebe" oder über die Geheimarmee der NATO mit Namen Gladio, die in Italien aufflog. Verschwiegen wird auch penetrant, was die SPD in einem Grundsatzprogramm 1989 kurz nach dem Fall der Mauer beschlossen hat: "Unser Ziel ist eine gesamteuropäische Friedensordnung auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheit." Und das vernichtende Urteil des alten SPD-Mannes: "Es ist gelungen, die SPD von der Mutter der Entspannungspolitik zur Tante des Feinbildaufbaus gegenüber Russland zu machen." (Seite 173) Also Abrüstung statt Aufrüstung ist angesagt. Eine bewährte Methode ist Wiederholen - steter Tropfen höhlt den Stein, besonders im Umgang mit Russland, wie der Autor feststellt. Da heißt es, Russland verhalte sich aggressiv und expansiv. Nur, wie viele Kriege hat der Westen geführt, wie viele Milliarden für Rüstung ausgegeben (643,3 Milliarden US-Dollar im Vergleich zu Russland 63,1 Milliarden). Die Zahl der Militärbasen, einerseits USA und andererseits Russland stehen etwa im Verhältnis 1.000 zu 25. Aber der wiederholte Vorwurf: Russland sei aggressiv und expansiv. Dazu zitiert der Autor George Orwell aus dessen Roman 1984. "Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten - dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit."

Als eine Manipulierungsmethode nennt Albrecht Müller das Prinzip: "Alle in der Runde sind der gleichen Meinung. Dann muss es richtig sein." Beispiele folgen aus ARD-Sendungen im Presseclub. Und jeder, der in letzter Zeit Talk-Runden im Fernsehen eingeschaltet hat, erlebt gleiches oder ähnliches. (Seite 43 ff) Schließlich heißt ein Abschnitt "Experten helfen - zu manipulieren". Es werden eine Reihe von Themen dazu genannt, wie die Debatte um die Kernenergie, um den demografischen Wandel in den sozialen Sicherungssystemen oder um den Verzicht auf eine aktive Konjunkturpolitik. Wie mit Hilfe von Experten manipuliert wird, konnte man, so der Autor, während der Corona-Debatte jeden Tag studieren. Die Nutzung solcher Ansammlungen von Experten ist nicht erst seit der Corona-Pandemie bekannt. Und immer wieder wird das Grundgefühl verbreitet: "Wir sind die Guten". Allein der Umgang mit Assange, der als Whistleblower undemokratische Machenschaften in den USA aufdeckte, reicht aus, "um zu begründen, wie verlogen die Manipulationsmethode 'Wir sind die Guten' ist." Kommt der wenig informierte Leser aus dem Staunen über diese Vielzahl ineinandergreifenden Methoden nicht heraus, legt der Autor im nächsten Hauptkapitel auf knapp 100 Seiten noch einmal gehörig nach. Da geht es um konkrete Meinungsmache und die dahintersteckenden Strategien. Hier wurden in die erweiterte Auflage eine ganze Reihe aktueller Textteile eingefügt. Sie führen den Beleg, dass der Krieg in der Ukraine eine Hoch-Zeit für Manipulationen darstellt. Aber Albrecht Müller verweist auch darauf, dass dieser Krieg ein Beitrag zur Aufklärung über die wahren Verhältnisse der Willensbildung in Deutschland und Europa liefert. Der kritische Verstand kann erkennen, dass "…Deutschland wie Europa in kleinen Variationen politisch von den USA gesteuert werden. Eine eigenständige Politik Europas und unseres Landes ist nicht mehr erkennbar." (Seite 178)

Das Buch ist als Hilfe für den Alltag gedacht. Oft vergisst man zu hinterfragen, oft glaubt man zu viel. Zum Resümee des Buches gehört: Seit dem Erscheinen der Ersten Auflage ist die Propaganda in unserm Alltagsleben noch vorherrschender und lauter geworden. Es geht dabei nicht nur (oder schon wieder) um Corona. Es geht auch um Krieg und Frieden. Krieg wollen wir nicht. Das ist für den Autor "…ein wichtiger Grund mehr für Aufklärung über die grassierenden Manipulationen und damit für das Gespräch mit anderen." (Seite 184)

Von Ronald Keusch

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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