Reise doch mal nach Pankow

Nach wie vor wird von den Politikern und ihren angeschlossenen Funkhäusern und Verlagen das Reisen in Europa und in die Welt mit unzähligen Verordnungen in weite Ferne gerückt.

Foto aus dem Archiv Ralf Schmiedecke
Foto aus dem Archiv Ralf Schmiedecke

Und das, obwohl die tatsächlichen und wissenschaftlich richtig bewerteten Resultate der PCR-Tests und der Inzidenz-Werte sowie auch die Belegungszahlen von Intensivstationen solche Maßnahmen in keinerlei Weise begründen. Selbst im Inland werden an den Küsten wie in den Bergen und in den Städten die Hotels verrammelt, Restaurants und Kulturstätten geschlossen. So müssen auch die Spaziergänge durch die Architektur und Geschichte von Rom oder um den See von Zürich und in den Gassen von Innsbruck noch warten.

Um so mehr lohnt es, sich in der näheren und weiteren Nachbarschaft intensiver umzuschauen. Eine spannende Lektüre liefert dazu der Sutton Verlag aus Erfurt, der die Bildband-Reihe "Einst & Jetzt" auflegt. Auf jeweils einer Doppelseite sind zumeist unveröffentlichte mehr als 100 Jahre alte historische Aufnahmen den aktuellen Fotografien gegenübergestellt. So kann der Leser einen interessanten und teilweise auch faszinierenden Vergleich anstellen. Und zugleich auch einen lehrreichen Spaziergang durch deutsche Geschichte unternehmen. Das zeigt exemplarisch auf insgesamt 120 Seiten der Bildband "Pankow Einst & Jetzt", den Autor und Lokalhistoriker Ralf Schmiedecke zusammenstellte. Die Geschichte des Stadtbezirks Pankow im Nordosten der Stadt beginnt wie von vielen anderen Stadtbezirken Berlins erst im Jahr1920. Mit der Bildung von Groß-Berlin werden die im Barnim gelegenen Dörfer Pankow, Niederschönhausen, Rosenthal, Buchholz, Blankenfelde und Buch eingemeindet.

Teilweise sind die historischen Baustrukturen mit den Entwicklungen der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts und des sich ausbildenden städtischen Charakters noch heute erhalten geblieben. Einer von den vielen Vorzügen des Bildbandes besteht eben darin, dass dank der historischen Aufnahmen, darunter manche Postkartenmotive, diese Entwicklung in einzigartiger Weise widergespiegelt wird. Dazu werden jede Menge interessanter Geschichten erzählt, die nicht nur die zugereisten, sondern auch die meisten der hier geborenen Berliner nicht kennen. Für das Dorf Pankow und später für den Stadtbezirk ist der Namensgeber der in Bernau entspringende 29 Kilometer lange Nebenfluss der Spree, die Panke. Dem früheren Bürgermeister Wilhelm Kuhr ist es zu verdanken, dass der Bürgerpark Pankow, ein zehn Hektar großer Landschaftspark nach englischem Vorbild nicht bebaut, sondern als eine der attraktiven Grünanlagen für die Berliner erhalten blieb (Seite 14). In der Heynstraße 8 blieben in der Beletage des Vorderhauses die Räumlichkeiten der Unternehmerfamilie Heyn weitgehend erhalten oder wurden zusätzlich detailgetreu restauriert. Seit 1974 ist die Wohnung frei zugänglich. Hier präsentiert das Museum Pankow (früher Panke Museum) die Alltagskultur um 1900 (Seite 24/25). Und wer kennt schon die Geschichte, dass die bayrische Bierbrauer-Kunst nicht erst seit dem Fall der Mauer Berlin eroberte, sondern schon mehr als 100 Jahre früher. Bereits 1883 nahm die Weißbierbrauerei Willner in der Berliner Straße mit eigener Mälzerei sehr erfolgreich ihren Betrieb auf und natürlich mit Bier-Ausschank (Seite 36/37). Natürlich findet auch die einstige "Chaussee nach Pankow" im Bildband ihren Platz, der Straßenzug Schönhauser Allee. Es stehen hier Fotos von der Kreuzung mit der Wisbyer Straße, die benannt wurde nach der eingedeutschten Stadt Visby auf der Ostseeinsel Gotland (Seite 38). Hier schließt sich Richtung Westen die Bornholmer Straße an, auf der bekanntlich am 4. November 1989 viele tausende Berliner die Berliner Mauer einstürzten.

Der Bildvergleich im Zeitraum von 100 Jahren ist wahrlich eine Wanderung durch deutsche Geschichte. Die Bombardierungen im 2. Weltkrieg hat Gebäude unwiederbringlich zerstört und Lücken hinterlassen (Seite 61 Restaurant Sanssouci). Auch für die Errichtung der Mauer mussten Gebäudeteile weichen. Und der Kino-Neubau "Lunik Lichtspiele" aus dem Jahr 1961 wurde nach dem Verkauf des Grundstücks durch die Treuhandanstalt 1994 abgerissen (Seite 81). Ausgespart wurden in dem Buch über Pankow die Gebäude der Wohnsiedlung der früheren Machtelite der DDR im damaligen Majakowski-Ring in Niederschönhausen. Bevor im Jahr 1960 der Umzug in die Waldsiedlung nach Wandlitz erfolgte, war hier seit 1949 in einem geschlossenen Straßenzug eine Wohnsiedlung für DDR-Führungskräfte eingerichtet worden. In jener Zeit sprachen deshalb westdeutsche Politiker und Zeitungen von den Machthabern in "Pankoff". Vielleicht ein insgesamt zu schwergewichtiges politisches Thema, das den Rahmen des Buches wohl eher sprengen würde. So bleiben in dem Bildband andere Erinnerungen an den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden beispielsweise das Gebäude Am Amalienpark 7 mit seinen berühmten Bewohnern, wie der profilierte Kiez-Historiker von Berlin Ralf Schmiedecke beschreibt. Dazu zählt die Schriftstellerin Christa Wolf, die mit ihrem Ehemann Gerhard seit 1976 in Berlin ansässig, hier von 1988 bis zu ihrem Lebensende arbeitete (Seite 48/49). Angelehnt an ihren 1996 veröffentlichten Roman "Medea: Stimmen" schuf die Künstlerin Christine Dewerny die Sandsteinskulptur "Maske der Medea", die im Vorgarten des Hauses aufgestellt wurde.

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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