"Das Flugwesen, es entwickelt sich"

Der Blick auf die Fotoleiste bei CHEXX mit den leeren Straßen und Plätzen von Berlin zeigt, dass der Coronavirus die Stadt im Griff hat.
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures
Ronald Keusch, Foto von ESDES.Pictures

Die Assoziationen des Betrachters auf diese ungewohnten Bilder sind sicher unterschiedlich. Mir fiel beim Anblick der völlig leeren Schalter-Hallen auf dem Flughafen Berlin Tegel als erstes der Satz ein: "Das Flugwesen, es entwickelt sich." Dieser Satz stammt aus einer Satire von Michail Soschtschenko, die in der DDR Kultstatus hatte. Das verdankte sie einer Version, vorgetragen von Manfred Krug 1965 in der Reihe Lyrik Jazz Prosa und veröffentlicht auf Schallplatte. Darin wird mit feiner Ironie und beißendem Spott über den Wächter einer Flugschule, Gregori Kossonossow, erzählt, der als Agitator in seinem Dorf von der Bedeutung des Flugwesens überzeugen und Geld für ein neues Flugzeug sammeln will. Als er in seinem Eifer Anekdoten über Unfälle in der Flugschule erzählt wie: "Da kam eine Kuh in den Propeller, ritsch, ratsch, weg war sie ... auch Pferde ...", da kühlte das Interesse der zuhörenden Bauern schnell ab. Und Geld bekam er auch nicht, weil die Bauern, so der Agitator, ein so "ungebildetes Volk" waren. Auch heute drängt sich dieses geflügelte Wort auf, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinander fallen wie auch exemplarisch beim Trauerspiel um den neuen Flughafen BER. Bereits vor sechs Jahren verglich der Altmeister des politischen Kabaretts, Martin Buchholz, das Auftreten der Figur des Nachtwächters Kossonossow aus der Satire mit den Darbietungen des Managers Hartmut Mehdorn. Diese schillernde Figur aus der deutschen Wirtschaftsspitze war der damalige Vorsitzende der Geschäftsführung vom Flughafen Berlin-Brandenburg und damit zugleich erster Verantwortlicher für den Neubau. Als dann Buchholz gehörig über Mehdorn spottete, blieb schon damals manchem Leser das Lachen im Hals stecken angesichts der Milliardenkosten, die die "Endlos-Baustelle" den Steuerzahler kostet. Übrigens listet eine Website den aktuellen Stand bis heute auf. Doch wer glaubte, mit der Abdankung von Mehdorn im Jahr 2015 hätte auch Kossonossow seinen Dienst quittiert, irrte gewaltig. Auch der neue Flughafenchef Lütke Daldrup scheint sich mit dem Geist von Kossonossow auf das engste verbunden zu fühlen, wie sich beim Gezerre um den ultimativ letzten Eröffnungstermin des BER am 31. Oktober zeigte. Und hat nicht auch der umtriebige Kossonossow seine Hände im Spiel bei der Anbindung des neuen Flughafens an die Berliner Stadtautobahn? Die Hauptstadt-Zeitungen BZ und Berliner Zeitung schlugen Ende letzten Jahres Alarm. Bei einer Inbetriebnahme des Flughafens ist zu befürchten, dass rund um den schon jetzt aussichtslos überlasteten Britzer Tunnel und seiner Zufahrten enorme Staus und sogar Sperrungen zu erwarten sind. Auch die jüngste Aktion zum Flugwesen in Berlin trägt die Handschrift von Kossonossow. Flughafenchef Daldrup kommt angesichts der leeren Schalter-Hallen in Tegel auf die Idee, den gesamten Flughafen TXL bis zum 31. Mai dicht zu machen, um rund fünf Millionen Euro im Monat zu sparen. Wohlgemerkt, die BER- Schuldenuhr steht beim Schreiben dieser Zeilen bei 5,710 Milliarden Euro. Aber viel entscheidender ist doch, dass alle Welt und auch Deutschland darüber angestrengt nachdenkt, wie das "stillgelegte" Land so sicher und schnell wie möglich wieder den notwendigen Lebensrhythmus findet. Alles muss dafür getan werden, dass auch die Hauptschlagadern der Wirtschaft, dazu gehören selbstverständlich die Flugverbindungen, wieder funktionieren. Zudem ist der Flughafen ein kompliziertes System, das nicht wie ein Lichtschalter bequem an und auszuschalten ist. Es war nicht nur für die Wirtschaftsverbände, sondern auch für die Bevölkerung schon irritierend, dass gefühlt ein Jahr und länger eifriger diskutiert wurde über die Schließung von Tegel anstatt über die Wege, möglichst schnell den neuen Flughafen BER zu eröffnen. Die weitere Steigerung der BER-Farce: Tegel schließen und BER immer noch nicht eröffnen. Einen Untersuchungsausschuss zum Versagen des Berliner Senats und der Landesregierung Brandenburg beim Neubau BER wird es vermutlich nicht geben. Es ist auch bislang kein Fall bekannt, dass Frösche, die es sich in einem Sumpf gemütlich eingerichtet haben, für seine Trockenlegung gestimmt haben. Falls allerdings Untersuchungsausschüsse in Deutschland wieder modern werden sollten, müsste das Flugwesen noch warten und dem Thema Staatsversagen in der Coronavirus-Krise den Vortritt lassen. Da sollte geklärt werden, warum in der ersten Viruswelle so viele Menschen sterben mussten, weil nicht genug Atemschutzmasken, Schutzanzüge und Handschuhe für die Ärzte zur Verfügung standen.

Marc Vorwerk ist einer der Topfotografen in Berlin und begeistert mit seinen Werken Wirtschaft, Politik und Kultur.
An dieser Stelle gibt es im Wechsel sein bestes Foto exklusiv bei CHEXX.

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