"Die Zeit schreit nach Satire", so die Überzeugung des begnadeten deutschen Satirikers Kurt Tucholsky. Sein Satz, vor mehr als 80 Jahren formuliert, ist heute genau so aktuell wie damals. Insofern müsste das politische Kabarett eine Hoch-Zeit erleben. Einziges Hindernis, so befürchtete spöttisch einer der Klassiker des heutigen politischen Kabaretts Volker Pispers, sei die Realsatire, die Politiker produzieren. Diese Satire in Wort und Bild könne Kabarett-Machern schaden, da sie ihnen die Pointen stehle. Das Kabarett Die Distel, im Jahr 1953 in Ostberlin gegründet, hat sich sowohl zu Zeiten der DDR als auch im vereinten Deutschland einen Namen gemacht.
Im Jubiläums-Programmheft "Die Distel wird 60" aus dem Jahr 2013 werden viele Höhen (Programme von Schaller/Ensikat vor und nach der Wende oder das 1988 von der DDR-Regierung verbotene Programm "Keine Müdigkeit vorschützen" von Inge Ristock) wie auch manche Tiefpunkte präsentiert. Stolz ist auf der Titelseite die Unterzeile verewigt: Kabarett-Theater DISTEL - der Stachel am Regierungssitz. Die Erwartungen an dieses politische Hauptstadt-Kabarett mit seinem Stammsitz am S-Bahnhof Friedrichstraße und seine zeitgeschichtlichen Traditionen sind groß. Das gewählte Thema Europa, verbunden mit einer Art von Rahmenhandlung über einen EU-Gipfel, bietet unzählige aktuelle Fragen und Probleme, die die Zuschauer bewegen. Hier könnten die Stacheln am Regierungssitz stechen, wenn satirische Scheinwerfer die Widersprüche zwischen Schein und Sein in der Politik der deutschen Regierung und der Brüsseler EU-Gremien ausleuchten würden. Doch die Stacheln in diese Richtung scheinen mit Wattebällchen versehen und zu vieles bleibt im Dunkeln. Für das Textbuch trägt der langjährige Kabarettist und Autor Jens Neutag die Verantwortung, der sich zusätzlich noch insgesamt sieben Autoren mit Textbeiträgen ins Programm holte. Außerdem seien bei den Proben von den Kabarettisten die Texte aktualisiert worden. Eine anspruchsvolle und löbliche Absicht, zumal in unserer schnelllebigen Zeit. Allerdings gelang das beispielsweise zum Thema CETA nicht. Das so genannte Freihandelsabkommen CETA wurde ja kürzlich von einem SPD-Partei-Konvent und vom Bundesverfassungsgericht mit Einschränkungen für Deutschland durchgewinkt. Doch der eigentliche Knackpunkt bei den Texten besteht weniger in der Auswahl, sondern in der Behandlung der Themen rund um Europa. Überdeutlich spürbar kuschelten sie im Mainstream der Eckpunkte von staatlicher Regierungs-Propaganda.
Bei den Streitpunkten zum Brexit der Briten aus der EU, zu Warnungen vor dem politischen Islamismus oder zur Einwanderungspolitik wurden Klischee-Argumente in der Diskussion kaum hinterfragt oder satirisch zugespitzt. Ganz klar verschenkte Möglichkeiten des Kabaretts. Das betrifft auch die Sketche, in der die demonstrierenden Regierungsgegner in Dresden und eine Deutschland weit agierende Oppositionspartei als Kessel Braunes deklariert wird, die auf Wahlzetteln das Hakenkreuz setzen. Es muss doch im Kabarett noch andere Mittel geben als die "Nazikeule", um wirkungsvoll eine politische und satirische Auseinandersetzung mit konservativen nationalen Parteien und Meinungen in Deutschland zu führen. Trotz dieser verschenkten Möglichkeiten eines politischen Kabaretts, das sich immerhin noch selbst als Stachel am Regierungssitz einstuft, ist insgesamt das Gipfel-Programm durchaus unterhaltend. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet die Live-Musik unter dem Motto: Satire trifft auf Songs. Dazu werden zahlreiche internationale Hits mit neuen Texten versehen. So geht nach der Musik von Falco nicht der Kommissar, sondern neu inszeniert EZB Präsident Mario Draghi um. Durchweg gute Noten verdient auch das Ensemble auf der Bühne, eine gelungene Mischung aus alten Kabarett-Haudegen und jungen vielseitigen Talenten.
So ist es nicht überraschend, wenn auf der Website der Distel als Publikumsstimme in der Premieren-Nacht Iris Hegemann vom Deutschen Tourismusverband mit den Worten zitiert wird: "Mir gefällt, dass es musikalisch stark besetzt ist. Highspeed-Kabarett der Spitzenklasse!" Als ich in der Premieren-Pause Michael Nitzel, Ensemble-Mitglied und Urgestein der Distel, die Frage stellte, warum die Distel in diesem Programm gegenüber der Merkel-Regierung die Stacheln eingezogen hat, meinte er lächelnd, dass es in der Vergangenheit so viele stark kritische Distel-Programme gegeben hätte und dieses Gipfel-Programm ja nun in der vorweihnachtlichen Zeit gespielt wird. Am Ende der Vorstellung lang anhaltender Applaus des Premierenpublikums. Der übergroßen Mehrheit der Zuschauer hat das Programm gefallen. Kein Platz für Kritik an fehlender Regierungs-Kritik. Zumindest wurde das Programm nicht wie auf dem Merkel-CDU-Parteitag mit Standing Ovation zehn Minuten lang beklatscht. Ein wenig Hoffnung auf Erkenntnis bleibt. Das Programm der Distel gibt es hier.