Recht bekannt und oft verwendet ist die Wendung "Ich bin reif für die Insel", was so viel bedeutet wie: Ich bin abgeschlafft und ausgepowert, brauche und suche dringend Erholung und Urlaub. Jetzt tauchte eine ähnliche Formulierung auf in einem Medienforum vom TourismusDialog.Berlin beim Thema Mobilität und Verkehr in der Hauptstadt. Eingeladen wurden dazu die drei wichtigsten dafür zuständigen Personen in der Hauptstadt: Eva Kreienkamp, die Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Peter Buchner, der Vorsitzende der Geschäftsführung S-Bahn Berlin und nicht zuletzt, sondern zuerst Bettina Jarasch. Sie ist seit einem halben Jahr frisch gebackene Bürgermeisterin von Berlin und Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz. Eine solche prominente Runde forderte den auf diesem Gebiet fachlich wohl kompetentesten Journalisten in Berlin als Moderator, Peter Neumann von der Berliner Zeitung.
Nachdem am Anfang des Gesprächs Senatorin Jarasch trotz aller Bemühungen der Stadtregierung einen Anstieg der Emissionen im Verkehr und im Gebäudesektor beklagte, bemängelte sie, dass nach wie vor zu viele Menschen in ihrem eigenen Auto unterwegs sind. Sie verband ihre Aussage mit der strikten Forderung, dass sich das ändern müsse und sie überzeugt sei, dass wir in einer Stadt leben, die das hinbekommt. Da stellte Moderator Neumann die Frage: "Sind die Menschen noch nicht reif für eine Mobilitätswende?"
Nach einem längeren Schweigen kam von der Senatorin als Antwort ein trotziges "Doch" und sie machte ihre Aussage daran fest, dass "viele Menschen auf das Fahrrad umsteigen" und ergänzte gleich "obwohl hier draußen in Schöneweide diese Situation nicht ganz so dominant ist." Aha.
Der passende Ort für dieses Medienforum wurde an der großen Ausfahrtstraße Adlergestell im S-Bahn-Werk Schöneweide gefunden, die in einer großen Werkhalle mit geparkten S-Bahnwagen eine würdige Kulisse bot.
Selbstverständlich war das Thema des 9-Euro-Ticket gleich auf der Tagesordnung, das "eigentlich von der Bundesregierung als soziale Entlastung angesichts steigender Energiepreise bestellt war." Sein Erfolg "zeigt ganz deutlich, offensichtlich sind viele Menschen bereit, in den ÖPNV umzusteigen, wenn ein günstiger Preis da ist", so Jarasch.
Die BVG-Chefin Kreienkamp ist positiv überrascht, dass ein so einfaches Produkt so gut zu platzieren ist und bestätigt Prognosen, die ihr Unternehmen in der Vergangenheit vorgenommen hat. So etwas habe es in Deutschland noch nie gegeben. Und ihr Resümee "Unser System schluckt das alles, wir konnten alle befördern und dahin bringen, wohin sie wollten."
Und auf die Frage an den S-Bahn-Chef, ob ihn bei der Nachricht zur Einführung des 9-Euro-Tickets der Schreck in die Glieder gefahren sei, dass da Fundamentales ins Rutschen kommt, antwortet Buchner ganz cool: "Mein erster Gedanke war, das ist eine tolle Chance, nach Corona die Leute wieder zurück in die Bahn zu bekommen. Ich war mir sicher, dass wir in Berlin keine Schwierigkeiten haben werden, die zusätzliche Abfrage zu bedienen." Aber der Verkehrsprofi gibt auch zu bedenken: Zwar steigen tatsächlich auch eingefleischte Autofahrer auf das 9-Euro Ticket um, aber es sind zu oft nicht notwendige Freizeit-Fahrten. Wenn alles nur induzierter Verkehr ist, haben wir wenig gekonnt. Auch für BVG Vorstandsvorsitzende Kreienkamp ist entscheidend, wie man Menschen gewinnen kann, die seit Jahren mit dem PKW unterwegs sind.
Und dann stellt der Moderator wieder eine entscheidende Frage. Wie weiter, wenn nach drei Monaten das 9-Euro-Ticket ausläuft? Bewahrheitet sich die Hauptsorge von Verkehrsfachleuten, dass dringend benötigte Mittel für den Ausbau des Schienenverkehrs ausbleiben und dann auch noch die 2,5 Milliarden Euro fehlen, die die Aktion mit dem 9-Euro-Ticket gekostet hat. So lautet eine Befürchtung zur Mobilitätswende und zum 9-Euro-Ticket. Erstens ist sehr viel Geld für den Ausbau des Schienennetzes nötig und zweitens ist der Fahrgast und Kunde durch günstige Preise durchaus bestechlich. Und obendrauf wird dann in der Diskussion an einer Stelle erwähnt: Geld kann man seit jeher nur einmal ausgeben. Also was passiert denn nun nach dem 31. August, wenn das Projekt 9-Euro-Ticket ausläuft? Wieder findet S-Bahn-Chef Buchner eine klare Position mit Realitätssinn: Ob die Leute sich in die Bahn oder ins eigene Auto setzen, hängt entscheidend davon ab, ob bei der S-Bahn "die Taktdichte, die Sauberkeit, die Zuverlässigkeit und die Kundeninformation stimmen. Vor allem die Zuverlässigkeit ist das A und O bei der S-Bahn und dem Funktionieren des S-Bahnringes. Das muss totale Priorität haben und auf diesen Feldern ist unbedingt in der Zukunft zu investieren", so Buchner. Neue Kunden lockt man nicht mit Dumping-Preisen, sondern mit attraktiven Angeboten.
Zum Thema Unterwegs in Berlin und jederzeit mobil genug gehören dringend auch Fragen zum Straßenverkehr. Und da war in allererster Linie die Senatorin für Mobilität Jarasch gefragt. Seit Wochen werden Stadtautobahn und Hauptverkehrsstraßen in Berlin durch Demonstranten blockiert. Diese erheblichen Verkehrsstörungen finden bei der Grünen-Politikern und Stadtbürgermeisterin Herrmann aus Friedrichshain- Kreuzberg viel Sympathie. Und wie ist das bei der Senatorin?
Besonders an solchen brisanten Stellen mit konkreten kritischen Fragen des Medienforums zeigen sich die Qualitäten der mehr als 20 Jahre in der Politik erfolgreich agierenden Politikerin. Im April 2021 wählten die Berliner Grünen Jarasch mit 97,9 Prozent der Delegiertenstimmen auf Platz 1 ihrer Landesliste zur Abgeordnetenhauswahl. Jarasch zelebriert die große Kunst des Antwortens - ohne allerdings konkret zu antworten. Senatorin Jarasch "teilt die Ziele der Demonstranten total" und sei erschüttert über deren Zukunftsangst und meint dann dazu: "Man darf nicht sich und andere mit seinem Protest gefährden. Das ist nicht in Ordnung." Aha.
Aber Moderator Neumann hakt noch einmal nach und lässt den Griff in den Werkzeugkasten der Unverbindlichkeit nicht zu. "Warum kommt es bei den Demonstranten nicht an?" "Weil sie Angst haben", lautet eine Antwort. Aber sicher nicht vor der Verletzung von Regeln und Gesetzen, vor Geld-Strafen und Untersuchungshaft.
Eine weitere Frage zu dem Projekt Friedrichstraße, wo ein Teilstück autofrei umgestaltet wurde. "Wurden Sie vom Gegenwind der Anwohner und insgesamt der Öffentlichkeit überrascht?" Jarasch: Das Projekt soll weitergeführt werden, mit kleinen Veränderungen bei der Führung der Fahrradspuren, es soll in der Debatte um den Stadtraum ein "symbolischer Ort" geschaffen werden. Und warum, wieder die Frage, sind die Berliner so sperrig, zeigen hier fast eine Art von Konservatismus? Wieder Griff in den Politik-Sprech-Werkzeugkasten: Die kritischen Stimmen sind lauter, insgesamt gebe es hohen Zuspruch. Da taucht dann wieder das Ziel der Zukunft auf: Der Weg zu einer autofreien Stadt, zumindest soll Berlin erst einmal Auto-arm werden. Auch die 9-Euro-Ticket-Idee wollte die Grünen Politikerin Jarasch ursprünglich sogar zu einem Null-Euro-Ticket ausweiten, um einen alten Traum ihrer Partei-Klientel zu erfüllen. In der Verantwortung als Senatorin hat sie diese Idee erst einmal aufgegeben.
Weiterhin wurde die Frage stellt, wie es Senatorin Jarasch mit ihrem Senat schafft, den Protest der IHK ruhig zu halten. Ein Verbot der Fortführung des Baus der Stadtautobahn A100 bis Treptower Park und der lang geplante Weiterbau bis zur Frankfurter Allee ist ein Bremsklotz für die Wirtschaft und dieses Verbot richtet sich gegen die bessere Flughafenanbindung und Entlastung der Innenstadt. Eine Antwort lautet, dass es genügend Themen gibt, wo sie mit der IHK an einem Strang zieht und wer möchte schon als Anwohner an einer Autobahnauffahrt wohnen. Mit diesem Argument müsste allerdings die S-Bahn den Verkehr da einstellen, wo sie auf ihren Gleisen bei Anwohnern vorbeifährt. Auch die Frage zu den in letzter Zeit ständig längeren Bauzeiten und Sperrungen von Straßen und Bahnhöfen und wie man sie im Interesse aller einschneidend verkürzen kann, scheint es nur Erklärungen der Gründe für den Missstände zu geben, aber keine konkreten Taten.
Ein großes Verdienst dieses Medienforums besteht darin, gemeinsam mit hochkarätigen Verantwortlichen für Verkehr und Mobilität in der Stadt die große Komplexität der Probleme aufzuzeigen. Ein Fazit lautet: Wunschdenken und Weltanschauung allein kann ähnlich wie bei der Energiewende in ganz Deutschland auch die Mobilitätswende in der 3,8 Millionenstadt Berlin in keiner Weise bewerkstelligen.
Laut dem Berliner Medienblätterwald belegt Verkehrs- und Umweltsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) einen ersten Platz: Ihr Elektro-Auto stoße 59 Gramm CO2 aus, hieß es. Das gepanzerte Fahrzeug der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kommt laut Umwelthilfe auf reale 408 Gramm CO2. Und aus der Politiker-Gesprächsrunde ging meines Wissens nur der S-Bahnchef Peter Buchner zur nächsten S-Bahnhaltestelle Johannisthal und benutzte, so wie ich auch, für seinen Heimweg den Öffentlichen Personennahverkehr.
Übrigens: Laut Google Map beträgt die Fahrtzeit von mir zu Hause zum Adlergestell mit dem ÖPNV 52 Minuten, mit dem Auto 22 Minuten. Wenn man pro Tag eine Stunde mehr Zeit in Verkehrsmitteln verbringt, um zur Arbeit zu gelangen, dann sind das in einem Arbeitsjahr rund neun volle verschenkte Tage, und in einem ganzen Arbeitsleben 400 verschenkte Tage! Auch das ist eine Wahrheit, die es lohnt, noch einmal scharf darüber nachzudenken, ob eine Mobilitätswende gegen das Auto gelingen kann oder ob man in der Politik nicht doch einen ausgewogenen und realistischen Mix an Verkehrsmitteln anstreben sollte, um die Mobilität aller Bürger sicherzustellen.