Was täglich automatisch abläuft, wird am Wochenende für zahlreiche Anwohner zum zusätzlichen, ständigen und stundenlangen Ärgernis. Denn dann beginnt der im sogenannten Carillon sitzende "Carilloneur" in die Tasten der über 40 Meter hohen Monstrosität zu schlagen. Von März bis Oktober fast jeden Samstag für zwei bis drei und mehr Stunden. Und fast jeden Sonntag für weitere zwei bis drei und mehr Stunden - zum Teil im Auftrag der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH (KBB). Und, was keine Seltenheit ist, manchmal gar für über acht Stunden. Und an den Feiertagen. Auch stundenlang. Und von November bis Februar, dann jedoch nicht so häufig wie in den Monaten davor und danach. An wenigstens 60 Tagen allein in sieben Monaten knallt der Lärm des Carillon nicht nur durch die Schluchten des Regierungsviertels, sondern über Stunden auch in die Wohnungen und Büros der Anwohner am Rande des Tiergartens und je nach Wind weit darüber hinaus. Seit Jahren. Mit Klängen, die für viele Anwohner akustisch so sind wie die gelbe Webseite des Glockenturms optisch daherkommt.
Wer diesen unerwünschten, rücksichtslosen Beschallungen nicht regelmäßig ausgesetzt ist, mag Dauer und Häufigkeit meist kaum glauben.
Dem 1987 für fünf Millionen DM gebauten und zu keiner Kirche gehörenden Granit-Turm lauschen, wenn man sich die Mühe macht nachzusehen, keine Zuhörer. Zumindest nicht in relevanter Größenordnung. Mal sind es ein, zwei, die sich zum Turm als vermeintliche Touristen-Attraktion verirrt haben und nach den ersten Tönen allein der Lautstärke wegen schnell das Weite suchen. Meist aber gibt es nach eigenen Beobachtungen und laut Anwohnern keine Zuhörer, die den Beschallungen des Turms ihr Ohr bewusst schenken wollen.
In den Planungs-Akten: Stadtplan von 1987
Als der Turmbau zu Berlin 1987 begann, finanziert aus einer Spende von 2,8 Millionen DM von Daimler-Benz plus 2,2 Millionen DM vom Land Berlin, war nicht abzusehen, dass die Mauer zwei Jahre später fallen und das brachliegende Gebiet um die damalige Kongresshalle, dem heutigen HKW, und den Güterbahnhof Spreeufer, heute bekannt als Moabiter Werder, so tiefgreifende Veränderungen erfahren und neue Anwohner bekommen würde. Und dennoch machte man sich vor Baubeginn offensichtlich mehr Gedanken zur Nutzung des tönernen Turms und seinen Lärmfolgen als heute. Man ging, vernünftigerweise, von gelegentlichen "Konzerten" mit wechselnden "Carilloneuren" aus. So versicherte der Senator für Kulturelle Angelegenheiten dem Staatssekretär des Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz zur Nutzung des Carillons im Tiergarten am 23. Januar 1987: "Da es sich um ein Freiluft-Instrument handelt, verbietet sich eine häufigere Bespielung des Instruments ganz von selbst."
In den Planungs-Akten: " ... verbietet sich eine häufigere Bespielung des Instruments ganz von selbst"
Auch der Senator für Bau- und Wohnungswesen beschrieb im Zustimmungsantrag (für den Bau des Turms) am 5. März 1987 Art und Zweck des Bauvorhabens ähnlich: "Glockenturm mit Spielkabine für den manuellen Betrieb des Instruments in Form von unregelmäßig stattfindenden Konzerten." Man wählte den Standort neben der Kongresshalle, eben weil es keine Anwohner gab. Und es waren keine regelmäßigen stundenlangen Lärmbeschallungen vorgesehen. Weder jeden Samstag noch jeden Sonntag. Auch nicht jeden Tag um 12 Uhr und 18 Uhr. Und auch Stundenschläge waren nie vorgesehen.
In den Planungs-Akten: " ... in Form von unregelmäßig stattfindenden Konzerten"
Obwohl ein Interesse an "Konzerten" oder anderen Beschallungen vom Turm kaum vorhanden ist, wird das Klangungetüm am Kanzleramt allein in 2017 mit Steuergeldern in Höhe von wenigstens 75.000 Euro gefördert. Von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters und den KBB, deren Aufsichtsratsvorsitzende ebenfalls Monika Grütters ist. "Im Rahmen der institutionellen Förderung der KBB", wobei "der derzeitige Finanzplan für das Carillon eine jährliche Gesamtsumme in Höhe von etwa 25.000 Euro umfasst". Aus den 25.000 Euro, bei der man zusätzliche 51.000 Euro weiterer Förderung für ein "Carillon-Festival" zunächst nicht erwähnt und erst auf Nachfrage des Magazins CHEXX bestätigt hat, "werden die Unterhaltung des Turms sowie alle Honorarkosten bestritten. Die KBB ist für das Carillon, seine Bewirtschaftung und somit für die Auszahlung der Gelder zuständig".
Gefördert werde, um die "Tradition des Carillon-Spiels" im Herzen der Hauptstadt "weiterleben zu lassen", was nach Wahrnehmung eines Mitarbeiters der Staatsministerin in den letzten Jahren auch - offenbar in kompletter Unkenntnis der "Zuhörerzahlen" - "gut gelungen" sei, denn "das Carillon erfülle sowohl einen kulturellen als auch touristischen Zweck". Für ein oder zwei Zuhörer, die es mal hören wollen? Oder für viele hundert Anwohner, die es ständig hören müssen? Und das für 75.000 Euro Steuergelder allein im laufenden Jahr?
Grundlage der Förderung soll der Hauptstadtfinanzierungsvertrag von 2007 und ab 1. Januar 2018 der Hauptstadtfinanzierungsvertrag 2017 sein. "In beiden Verträgen wird das Carillon zwar nicht direkt erwähnt, ist aber von der Formulierung zur KBB umfasst", lässt die Kulturministerin wortwörtlich erklären. Ein weithin sichtbarer, großer und täglich weit hörbarer Glockenturm erhält über Jahre hohe finanzielle Förderungen aufgrund von Hauptstadtverträgen, in dem er nicht einmal erwähnt wird? Die Frage, ob es dazu ein Dokument gibt, welches die rechtliche Situation des Carillon und dessen Förderung eindeutig und nachvollziehbar klärt, beantwortet die Ministerin auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht.
Ärgerlich sind zahlreiche Anwohner auf den lärmenden Turm schon lange und meinen, es sei in den letzten Jahren noch schlimmer geworden. Das sieht auch eine mit Sicht auf den Turm wohnende 80-jährige, schwerhörige Frau so. Auch sie wandte sich an das Bezirksamt, welches eine Messung der Lautstärke vornahm. Doch der zulässige Immisionsrichtwert zur Tageszeit von 55dB(A) wurde laut Amt eingehalten. Dass eine Häufigkeit des Lärms keinen Einfluss auf solche Berechnungen erhält, sollte man dabei wissen.
Andere wandten sich an die Staatsministerin, die in einer Antwort - neben einem Geschichtsexkurs über Carillons im letzten Jahrhundert - "versichern" lässt, vorgetragene Beschwerden "ernst zu nehmen", um schließlich auf eine angeblich geplante "moderate" Reduzierung der Nutzung des Turms hinzuweisen. Doch allein die über Umwege vom Magazin CHEXX in Erfahrung gebrachten und erst auf Nachfrage bestätigten 51.000 Euro weiterer Förderung für ein sogenanntes "Carillon-Festival" in 2017 belegen, dass es diese Reduzierung nie geben sollte. Wie "ernst" das Ministerium Beschwerden von Anwohnern nimmt, zeigen schon Antworten mit dem arroganten Hinweis auf den Standort des Carillons sowie dessen Nutzung als "Musikinstrument", der "zum Zeitpunkt des Einzuges bekannt gewesen sein müsste" und dass es ja die "Möglichkeit des Rechtswegs" gäbe.
Aus den Antwortschreiben der Kulturstaatsministerin
Die den Turm betreibende KBB antwortet in ihren Schreiben auf Lärmbeschwerden von Anwohnern ähnlich und stets mit gleichen Textbausteinen. Mal wird darauf aufmerksam gemacht, dass das Carillon überwiegend "in der Sommerzeit bespielt" wird und "Lärmeinflüsse in einer Stadt wie Berlin" allen ernstes "hinnehmbar" seien. Dann folgt, dass bei der "Bespielung des Carillons alle Seiten bemüht" seien, "Rücksicht auf Anwohner und Mitarbeiter der angrenzenden Institutionen zu nehmen", um meist ebenfalls mit der Aussicht auf Reduzierungen der Nutzung des Glockenturms oder der "Probentätigkeit des Carilloneurs" zu schließen. Dass es unmittelbar nach solchen Antwortschreiben auch schon wochenlang Punkt 19 Uhr wie zum Hohn täglich minutenlange Zugaben vom dunklen Turm gab, verwundert nicht.
"Probentätigkeit" nennt sich der stundenlange Glockenlärm an den Samstagen, denn Mitarbeiter des Hauses der Kulturen der Welt sollen sich den Lärm in der Woche verbeten haben, da sie dann nicht arbeiten könnten.
Staatsministerin und KBB verweisen für weitere Informationen stets auf die Webseite "carillon-berlin.de". Auf dieser befindet sich - belegbar seit 2007 - ein Hinweis auf den Veranstalter, versehen mit den jeweiligen offiziellen Logos: "Veranstaltet von CarillonConcertsBerlin. Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und den Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin". Weiterhin findet man als Kontakt den Namen des "Carilloneur" samt seiner vermutlich privaten Adressdaten, auf den die Domain auch angemeldet ist, obwohl diese von den KBB finanziert wird. Es gibt jedoch keine Informationen, wer Inhaber oder Betreiber des schwarzen Turms oder wer genau "CarillonConcertsBerlin" ist. Wohl aber, zumindest bis Ende September 2017, dass im Turm kommerzielle "Privatkonzerte" und Turmführungen für eine "Mindestgebühr von 50 Euro" angeboten werden - vom Veranstalter "CarillonConcertsBerlin".
"Veranstaltet von CarillonConcertsBerlin" (Quelle: carillon-berlin.de)
"Privat- und Sonderführungen, -konzerte und - vorträge" für eine "Mindestgebühr 50 Euro"(Quelle: carillon-berlin.de)
Originaltext auf carillon-berlin.de, abgerufen im Juli 2017, der inzwischen von der gelben Webseite verschwunden ist: "Privat- und Sonderführungen, -konzerte [ ... ] an besonderen anderen Tage zu besonderen Zeiten (z. B. Freitag oder Samstagmittag/nachmittag oder ein Wochentag zwischen 11 und 14 Uhr) können auch vereinbart werden [ ... ] Mindestgebühr 50 Euro [ ... ] Privatkonzerte [ ... ] und Sonderkonzerte für Sonderveranstaltungen [ ... ] können auch bestellt werden. Programme, Honorare, Termine werden individuell vereinbart. Konzerte und längere Bespielungen sind in der Regel Freitags 17-20 Uhr, Samstags 10-20 Uhr und Sonntags 15-20 Uhr möglich, kurze Bespielungen sind auch in der Woche möglich [ ... ]"
"Privatkonzerte", nach wie vor abrufbar unter carillon-berlin.de/cms
Auf die Frage, auf welcher rechtlichen Grundlage der Turm für kommerzielle Führungen und "Konzerte" dem Veranstalter "CarillonConcertsBerlin" zur Verfügung gestellt wird, erklärt die KBB, dass sie den kommerziellen Zweck der Nutzung "nicht erkennen" könne. Man habe "einen Vertrag nur mit dem Carilloneur [ ... ] und mit möglichen Gastcarilloneuren. Zu CarillonConcertsBerlin steht die KBB in keinem Verhältnis". Und dennoch fließen die aus "privaten Konzerten" und "längeren Bespielungen" sowie durch Turmführungen "erwirtschafteten Einnahmen" des Veranstalters, mit dem man in keinem Verhältnis stehe, laut KBB "in die Budgetaufstellung ein"?!
Eine Antwort der KBB, Juli 2017
Um Erklärung dieses Widerspruchs bittend, schreibt die KBB, dass die Konzerte kostenfrei seien und Einnahmen nur durch Führungen erzielt werden. Weiterhin sei die Teilnahme an den Führungen "sehr zurückhaltend. Die Höhe der Einnahmen ist daher sehr gering" und decke deren Kosten.
Die Organisation und Durchführung von Konzerten ist für die KBB eine künstlerische Leistung, die nicht ausgeschrieben werden muss.
Wurde die Dienstleistung "Veranstaltungen im Carillon durchzuführen" ausgeschrieben? "Künstlerische Leistungen, also die Durchführung eines Konzertes" können, so meint die KBB, nach "§ 3 VOL freihändig vergeben werden". Vertragsgegenstand mit dem "Carilloneur" sei - auch hier wortwörtlich in der Wiedergabe - die "Bespielung des Carillons, d.h. die Organisation und Durchführung von Konzerten."
Antworten der KBB, Juli und August 2017
Was ist das für ein Vertrag, den die KBB, aktuell für die Jahre 2017, 2018 und 2019, mit dem - seit 1987 - im Turm tätigen "Carilloneur" geschlossen hat? Was ist Vertragsgegenstand? Die KBB dazu, wieder wortwörtlich: "Der Auftragnehmer (AN) verpflichtet sich jährlich 26 Konzerte auf dem Carillon zu geben. Die Konzerte finden sonntags von Anfang Mai bis Ende Juli, an den Feiertagen Ostersonntag und Ostermontag sowie den Maifeiertagen (einschließlich Pfingsten), dem 3. Oktober jeweils um 15:00 Uhr sowie an den Adventsonntagen und den beiden Weihnachtsfeiertagen, 25.12. und 26.12. um 14:00 Uhr statt. Der AN kann zusätzlich zu den genannten Konzerten zwei Konzerte mit Gastcarillonneuren organisieren. Pro Konzert steht dem AN eine Probe zu. Die Proben finden nicht von montags bis freitags statt und dürfen nicht nach 18:00 Uhr erfolgen. Eine Probe dauert nicht länger als zwei Stunden."
Das allein schon ergibt in der Summe 56 Tage Lärm für Anwohner in einem Jahr. Zählt man allerdings die Ankündigungen zu "Konzerten" auf carillon-berlin.de samt "Proben" zusammen, kommt man gar auf 76 Tage stundenlanger Beschallung in diesem Jahr. Für 75.000 Euro. Legt man dieselbe Zählweise für "Konzerte" früherer Jahre zugrunde, also "Konzerte" plus einer "Probe", kommt man bei dem Jahr 2012 übrigens auf 88 Tage, bei den Jahren 2013 und 2014 auf jeweils 70 Tage Lärm durch den dunklen Turm. Ohne "Privatkonzerte", die es in diesem Zeitraum auch gab und die man hinzurechnen muss.
Ein "Carillon-Festival" gab es also jedes Jahr. Ohne zusätzliche 51.000 Euro Steuergelder wie im Jahr 2017.
Doch zurück zum Vertrag, in dem sich laut KBB selbst der kleine Lärm für Anwohner und zwischendurch wiederfindet: "Der AN programmiert in Absprache mit der KBB neue Stücke auf der Automatik. Die Stücke werden vom AN je nach Jahreszeit ausgewählt und mindestens 4 x im Jahr geändert. Die Automatik wird die programmierten Stücke täglich um 12:00 Uhr und 18:00 Uhr abspielen. Die Bespielung hat eine Länge von max. 6 Minuten."
Gibt es Auflagen oder Vorgaben und welche Befugnisse erhält der "AN"? "Die obigen Vorgaben im Hinblick auf die Konzerte sowie die Abwicklung der Konzerte gegenüber der GEMA. Außer der Befugnis über die Durchführung der obigen Konzerte kann [ ... ] Turmführungen und Veranstaltungen (keine Konzerte) auf eigene Rechnung organisieren und durchführen."
Die Recherchen scheinen aufgeschreckt zu haben, denn der Text zu den "Privatkonzerten", veranstaltet von "CarillonConcertsBerlin", wurde Ende September, Anfang Oktober 2017 geändert. Das Angebot "Privatkonzerte" zu buchen, ist nun nur noch unter carillon-berlin.de/cms zu finden.
Gibt es für den lärmenden Skandalturm überhaupt eine Betriebsgenehmigung?
Auch dazu kein Wort von der Beauftragten der Bundesregierung. "Diese Frage müsste das Land Berlin als Eigentümer des Turms beantworten", wiegelt die KBB ab, die jedoch mit einem Überlassungsvertrag von 2001 vom Land Berlin die Liegenschaft und darauf befindliche Gebäude einschließlich des Carillon überlassen bekam und somit anstelle des Landes Berlins in alle bestehenden Rechte und Pflichten für diesen Bereich und somit auch für das Carillon eintrat. So zumindest äußert sich der Sprecher der Senatsverwaltung für Kultur. Erst die Nachfrage beim Stadtentwicklungsamt des Bezirksamtes Mitte führt weiter. Die Anlage sei dauerhaft entsprechend der bauaufsichtlichen Zustimmung der Bau- und Betriebsbeschreibung zu nutzen. Und darin heißt es: "Glockenturm mit Spielkabine für den manuellen Betrieb des Instruments in Form von unregelmäßig stattfindenden Konzerten."